Berlin/Hamburg. Polizisten rüsten mit Reizgas-Geräten auf. Der Wirkstoff soll Gewalttäter stoppen und Lagen beruhigen. Doch Kritiker sehen Risiken.

Es ist kurz nach neun Uhr morgens, als Polizisten in das Krankenzimmer laufen, ein Klinikum in Hamburg-Harburg, Psychiatrische Abteilung. Der Notruf der Krankenpfleger ging raus, weil ein 57 Jahre alter Mann randalierte. Er schloss sich in den Waschraum ein. Als die Polizisten anrücken, hören sie lautes Poltern. Und entschließen sich, die Tür aufzubrechen. Unter „Einsatz von Pfefferspray“ kann der Mann „zu Boden“ gebracht werden.

Die Pfleger spritzen dem Mann ein Beruhigungsmittel. So steht es in der Polizeimeldung, so berichten es Krankenhausmitarbeiter. Doch das Medikament wirkt nicht. Noch immer wehrt sich der Mann. Die Polizisten „fixieren“ ihn auf dem Boden. Plötzlich verliert der 57-Jährige das Bewusstsein. Die Ärzte können ihn nicht wiederbeleben. Der Patient stirbt.

Die Staatsanwaltschaft gibt auf Nachfrage unserer Redaktion bekannt, dass der Fall von Ende August derzeit ermittelt werde. Das Gutachten der Rechtsmediziner liege noch nicht vor. Nur diese Untersuchung kann abschließend klären, woran der Mann starb: Am Einsatz des Beruhigungsmittels oder am Zwang der Polizisten? Hatte er Vorerkrankungen am Herz? Starb er durch die Wirkung des Pfeffersprays? Oder war es der Ausnahmezustand von alldem, der den Körper dieses labilen Menschen überforderte?

Bundespolizei kaufte seit 2015 zehntausende Pfeffersprays

Bei Auseinandersetzungen in der alten Bundesrepublik etwa um die Startbahn-West am Frankfurter Flughafen versprühten manche Polizeieinheiten noch das chemische CS-Gas. Doch nach schweren Verletzungen bei Demonstranten und auch Polizisten selbst sattelten die Fachbehörden um. Seit der Jahrtausendwende nutzen sie bundesweit Pfefferspray – und rüsten regelmäßig auf.

Eine Antwort der Bundesregierung auf Anfrage der Linksfraktion, die unserer Redaktion vorliegt, zeigt: In den vergangenen Jahren kaufte allein die Bundespolizei rund 60.000 „Reizstoffsprühgeräte“ ein. 2015 waren es 7150 Geräte, 2016 sogar 52.127, 2017 laut Innenministerium nur 615. Die Zahlen schwanken, weil Großeinkäufe leere Bestände für eine Zeit füllen.

Eine Nachfrage in den Ländern belegt: Auch hier bestellt die Polizei regelmäßig mehrere Hundert oder Tausend Geräte und Kartuschen – so etwa in Hessen seit 2015 rund 1500 pro Jahr plus Kartuschen, in Niedersachsen waren es zwischen 2015 und 2017 insgesamt 27.600. In den Monaten vor dem G20-Gipfel 2017 in Hamburg kaufte die dortige Landespolizei mehr als 4000 Geräte mit Pfefferspray ein. Je nach Größe eines Bundeslandes und Einsatzlagen unterscheidet sich die Bestellliste.

Statistiken führen die Behörden nicht

Statistiken über den Einsatz von Pfefferspray führen die Polizeidienststellen kaum, auch nicht über die Verletzten. Eine Meldepflicht von Reizgas-Gebrauch etwa bei Demonstrationen besteht bei fast keinen Behörden. Doch der Chef der Gewerkschaft der Polizei, Oliver Malchow, und Gustav Zoller von der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster gehen davon aus, dass der Gebrauch von Pfefferspray in den vergangenen Jahren zugenommen hat.

Besonders gegen Angriffe mit Messern ist laut Befürwortern Pfefferspray ein gutes Abwehrmittel.
Besonders gegen Angriffe mit Messern ist laut Befürwortern Pfefferspray ein gutes Abwehrmittel. © dpa | Markus Scholz

Sie nennen Gründe: mehr Demonstrationen, die eskalieren. Häufiger seien Polizisten heute Gewalt und Aggressivität ausgesetzt, nicht nur bei Protesten, sondern auch bei Einsätzen in Wohnungen oder Stadtfesten. Immer mit dabei: Pfefferspray.

Der Hamburger Polizeiforscher Rafael Behr spricht mittlerweile „fast von einem Standardmittel“ für Beamte in Konfliktsituationen. Auch linke Sanitätergruppen melden: Bei keiner anderen Verletzung müssen sie häufiger helfen als bei Schäden der Augen oder der Haut, nachdem Demonstranten mit Pfefferspray besprüht worden seien. Teilweise stellt sich die militante Szene auf den Einsatz mit dem Reizgas ein und trägt Schutzbrillen oder Masken.

Staatsanwälte sehen Pfefferspray nicht als Todesursache

Der Tod des Mannes in der Hamburger Psychiatrie ist nicht der einzige Fall, der zuletzt den Blick auf den Einsatz von Pfefferspray lenkte. In Niedersachsen schlägt ein Mann mit einer Eisenstange auf einen Polizeiwagen ein, die Beamten versprühen Reizgas, der Mann sackt zusammen. Mediziner diagnostizieren ein „schockbedingtes Herz-Kreislauf-Versagen“.

In Heidelberg ereignet sich ein ähnlicher Fall wie in Hamburg. Ein Mann randaliert in einer Psychiatrie, auch müssen Polizisten Pfefferspray einsetzen, fesseln den Mann am Boden, als er sich weiter wehrt. Die Ermittlungen wurden mittlerweile eingestellt: Die Todesursache sei „eine Verquickung ungünstiger Umstände“, ein Zusammenspiel aus Polizeieinsatz, hochdosierten Medikamenten, Erkrankungen des Patienten. In beiden Fällen halten die Staatsanwaltschaften deutlich fest: Dass das Pfefferspray mitverantwortlich war für den Tod, konnten Mediziner nicht nachweisen.

Polizeigewerkschaft: Keine gravierenden Schäden

In die Dosen der Beamten passen je nach Typ 63 Milliliter, oder auch 400. Die Reichweite liegt zwischen vier und sieben Metern. Der Wirkstoff: Oleoresin Capsicum, ein Extrakt aus der Chili-Pfefferpflanze. Auch künstliche Ersatzstoffe nutzt die Polizei. Mehrere Staatsanwälte und auch Sicherheitsexperten geben auf Nachfrage unserer Redaktion ebenfalls Entwarnung: Einen Todesfall durch Pfeffersprayeinsatz sei bisher nicht bekannt.

Der Wirkstoff greife die Schleimhäute an, sagt Gewerkschaftschef Malchow. „Das kann Menschen kurzzeitig schädigen, allerdings haben wir keine Kenntnisse über dauerhafte und gravierende gesundheitliche Folgen beim Einsatz von Pfefferspray.“ Im Gegenteil sei die Verletzungsgefahr durch den Schlagstock höher, so Malchow.

Auch Polizeiexperte Zoller pflichtet bei: Pfefferspray sei ein etabliertes Mittel, um „Gegner“ zu verunsichern und die „Lage zu beruhigen“. Der Tenor: Für Polizisten ist das Reizgas ein Schutz – aber auch für einen Gewalttäter. „Polizisten müssen nicht gleich zur Schusswaffe greifen“, sagt Polizeiforscher Behr.

Atemnot und Hustenreiz

Pfefferspray ist laut Kritikern mit Vorsicht einzusetzen.
Pfefferspray ist laut Kritikern mit Vorsicht einzusetzen. © imago/Eibner | imago stock&people

Doch Kritiker und auch einzelne Forscher warnen vor voreiligen Schlüssen. In einem polizeiinternen Handhabungshinweis für die Geräte der Polizeihochschule in Münster, der unserer Redaktion vorliegt, wird die Wirkung beschrieben, die „meist schlagartig“ eintrete: Die Bindehäute schwellen an, das Lid verkrampft, Atemnot und Hustenreiz setzen ein. Auch Panikattacken und Aggression können laut dem Dokument Reaktionen sein. Es liest sich ein wenig wie der Beipackzettel zu starker Medizin.

Die Polizeitechniker schreiben aber auch: „Bei bestimmungsgemäßer Exposition gesunder Personen sind in der Regel keine bleibenden gesundheitlichen Schädigungen zu erwarten.“ Nur: Die Polizisten wissen gerade bei Krawallen auf Demonstrationen nicht, ob eine aggressive Person gesund ist, an einer Herzkrankheit leidet oder unter Drogeneinfluss steht. Das birgt ein Risiko.

Unter den „Risikofällen“ zählen die Forscher der Polizeihochschule auch Menschen auf, die unter Drogeneinfluss stehen. Der amerikanische Forensiker John E. Mendelson stellte schon vor Jahren durch Tierversuche mit Mäusen, dass der Wirkstoff von Pfefferspray etwa unter Kokain-Einfluss deutlich gefährlicher ist. Und sogar tödlich enden kann.

In einer Studie des US-Justizministeriums endeten zwei von 63 untersuchten Vorfällen mit Pfefferspray in Gefängnissen tödlich, da die Betroffenen Asthma hatten. Die Studie zeigt aber auch, dass die Zahl der Verletzungen bei Polizisten aber auch bei Verdächtigen oder Gewalttätern insgesamt gesunken ist, seitdem die Beamten Pfefferspray einsetzten.

Linke: Demos werden gefährlich

Kokain, Alkohol und Psychopharmaka können die Wirkung des Reizgases beeinflussen. Polizisten berichten allerdings auch, dass gerade Drogeneinfluss die Reaktionen des Körpers auch hemmen kann. In Einsatzprotokollen heißt es, dass der Besprühte danach nicht „handlungsunfähig“ war.

Es ist wie bei vielen Debatten um die Rolle der Polizei: Linke Kritiker halten den Reizgas-Einsatz für überzogen und gefährlich. „Der Einsatz macht Demos zu einer gefährlich Sache“, sagt der Linken-Bundestagsabgeordnete Michel Brandt. Offenbar ziele die Polizei darauf ab, Menschen von ihrem Recht der Versammlungsfreiheit abzuhalten. Gewerkschafter verteidigen die Methoden dagegen und sehen wenige Risiken. Ein Problem ist: Neuere Studien oder medizinische Gutachten dazu, wie das Gas auf den Menschen wirkt, fehlen.

Kommen jetzt Elektroschocker?

Polizeiforscher Behr sieht nicht so sehr Risiken durch den Einsatz des Pfeffersprays. Vielmehr stelle er eine Mentalität bei der Polizei fest, nach dem Motto: „Was wir haben, setzen wir ein.“ Manifestiere sich dies etwa bei Elektroschockgeräten, sei dies eine Gefahr. Die Spanne an Einsatzwaffen und deren Gebrauch werde ausgedehnt – und irgendwann überdehnt. Derzeit setzen Spezialkräfte der Polizeien diese sogenannten „Taser“ ein, Staffeln der Polizei in den Ländern testen die Geräte.

Fazit vieler Studien: Nicht das Mittel ist die Gefahr, sondern der falsche Einsatz. So warnt ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes im Bundestag vor Sprühen aus „kurzer Distanz“ und mit „hoher Wucht“. Das könne bleibende Schäden der Hornhaut verursachen. „Polizisten sollten das Mittel nicht in geschlossenen Räumen einsetzen, weil Erstickungstod ein Risiko sein kann“, sagt auch Experte Zoller.

Treffer auf das Gesicht seien gefährlicher und sollten vermieden werden, hebt GdP-Chef Malchow hervor. Gleichzeitig heißt es in den „Handlungshinweisen“, dass am besten „direkt“ ins Gesicht gesprüht werden solle, um eine Wirkung zu erzielen. Auch zahlreiche Videos von Demonstrationen zeigen, dass Beamte bei Ausschreitungen oder Räumungen von Sitzblockaden aufgrund von Tumulten und Widerstand der Betroffenen nicht genau zielen können. Häufig treffen sie ins Gesicht.

Für Schuldungen fehlt oft die Zeit

In den „Handhabungshinweisen“ der Hochschule Münster heißt es, dass Pfefferspray für die Beamten kein „Allheilmittel“ sein könne. Und: „Nur gezieltes regelmäßiges Training“ mache den Einsatz „effektiv“ und „minimiere“ die Gefahren. Doch in den Polizeidienststellen der Länder werde der Einsatz an Sprühgeräten ganz unterschiedlich trainiert, sagt Experte Zoller von der Polizeihochschule Münster. „Manche Einheiten üben jährlich, manche deutlich seltener.“ Noch klarer fasst es Gewerkschafter Malchow zusammen: „Anders als bei der Schusswaffe wird der Einsatz von Pfefferspray nur kurz erklärt. Regelmäßige Schulungen gibt es nicht.“ Oftmals fehle den Dienststellen schlicht die Zeit dafür.