Berlin. Der Paritätischer Gesamtverband sieht Handlungsbedarf in der Sozialpolitik. Er fordert Mehrausgaben von 50 Milliarden Euro pro Jahr.

Der Paritätische Gesamtverband hat den mangelnden sozialen Zusammenhalt in Deutschland beklagt und sieht „erheblichen Handlungsbedarf“ in der Sozialpolitik. Die Organisation, die mehrere Dutzend soziale Vereine und Verbände vertritt, forderte ein milliardenschweres „soziales Investitionsprogramm“ und eine Anhebung des Mindestlohns.

Die FDP warf dem Verband anschließend Alarmismus vor. Linke und Grünen schlossen sich den Forderungen an. Die SPD erklärte, die schwarz-rote Koalition sei bereits dabei, das Leben der Menschen zu verbessern.

„Politik muss sich daran messen lassen, ob und was sie zur Stärkung des sozialen Zusammenhalts beiträgt“, sagte der Verbandsvorsitzende Rolf Rosenbrock bei der Vorstellung des „Jahresgutachtens zur sozialen Lage“.

Nicht alle Menschen profitieren von guter Entwicklung am Arbeitsmarkt

Sein Fazit aus der rund 70 Seiten starken Broschüre: Es müsse eine bessere Sozialpolitik geben, die ihren Schwerpunkt auf vernachlässigte Gruppen und Sozialräume lege. Es fehlten politische Maßnahmen, die darauf gerichtet seien, von Einkommensarmut betroffene Personengruppen zu unterstützen. „Es fehlt am politischen Willen, die bestehende Ungleichheit durch eine stärkere Besteuerung leistungsfähiger Bevölkerungsgruppen beseitigen zu helfen“, sagte Rosenbrock.

Für das diesjährige Gutachten wertet der Verband eine große Bevölkerungsbefragung aus, die regelmäßig vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) vorgenommen wird. Danach sorgen sich etwa 90 Prozent der Bevölkerung um den sozialen Zusammenhalt in Deutschland. Ein Drittel mache sich dabei große Sorgen.

Die gute Wirtschaftslage und positive Entwicklungen am Arbeitsmarkt gingen an vielen Menschen vorbei, sagte Rosenbrock. Zu viele könnten von ihrem Lohn allein nicht leben oder keine ausreichenden Ansprüche auf Leistungen der Arbeitslosen- und Rentenversicherung erwerben. Noch immer arbeite gut ein Fünftel der Beschäftigten zu niedrigen Löhnen von weniger als 10,50 Euro pro Stunde. Die Fokussierung der politischen Debatte auf Migration und Flucht lenke von den Sorgen vieler Menschen in Deutschland ab und gefährde den Zusammenhalt, kritisierte Rosenbrock.

Rosenbrock fordert besseres Betreuungsangebot für Kinder

Dringend zu verbessern seien etwa Betreuungsangebote für Kinder, Schuldnerberatungen und die soziale und medizinische Versorgung auf dem Land. Der Mindestlohn von derzeit 8,84 Euro solle auf 12 Euro pro Stunde steigen, der Regelsatz für die Hartz-IV-Grundsicherung von 416 Euro auf mindestens 571 Euro.

Ein soziales Investitionsprogramm, das nicht nur symbolisch wirke, dürfte geschätzt rund 50 Milliarden Euro pro Jahr kosten, erläuterte der Verbandsvorsitzende. Hinzu kämen Steuerausfälle von 15 Milliarden Euro. Dies sei angesichts eines Bruttoinlandsprodukts von 3,3 Billionen Euro bei politischem Willen „kein unüberwindbares Hindernis“, sagte Rosenbrock.

Der Verband verlangt, auch die gesetzliche Rente zu stärken. Dafür sollte die bisherige Förderung von Betriebsrenten und privater Vorsorge umgelenkt werden. Das Rentenniveau müsse auf 53 Prozent angehoben werden. „Wir müssen unser Alterssicherungssystem vom Kopf auf die Füße stellen“, betonte Rosenbrock. Auch die Arbeitslosenversicherung müsse reformiert werden. „Nicht einmal 30 Prozent der registrierten Arbeitslosen bekommen auch Leistungen der Arbeitslosenversicherung.“

FDP wirf Verband das Schüren von Ängsten vor

Die Zeit, in der Ansprüche auf Arbeitslosengeld erworben werden könnten, müsse von zwei auf drei Jahre verlängert werden. Auch die Dauer, für die der Anspruch auf Arbeitslosengeld erworben werde, müsse auf drei Jahre steigen.

Mehr Geld werde zudem gebraucht, um „Kümmerer-Strukturen“ wie Begegnungsstätten oder Dorfläden in Städten und Gemeinden abzusichern. Angesichts weniger sozialen Zusammenhalts seien alle Einrichtungen zu stärken, „die einschließen statt ausgrenzen und Menschen unterschiedlicher Herkunft und aus verschiedenen sozialen Milieus zusammenführen“, so Rosenbrock.

Die FDP warf dem Paritätischen Gesamtverband vor, Ängste zu beklagen, die der Verband selbst schüre. Dem Sozialstaat mangele es nicht an Geld, sondern an Treffsicherheit, erklärte der sozialpolitische Sprecher der Bundestagsfraktion, Pascal Kober.

Linke-Fraktionschef Dietmar Bartsch kritisierte, die Politik der vergangenen Jahrzehnte habe die soziale Spaltung vorangetrieben, das gesellschaftliche Klima vergiftet und einen Beitrag zum Erstarken des Rechtspopulismus geleistet. SPD-Fraktionsvize Katja Mast betonte den Anspruch ihrer Partei, Solidarität und Zusammenhalt zu stärken, beim Kampf gegen Kinder- und Altersarmut oder mit einer Stabilisierung der Rente.