Berlin. Der Diakonie-Präsident Ulrich Lilie warnt: Ändert sich nichts am aktuellen Pflegenotstand, wird der Ruf nach Sterbehilfe lauter werden.

Rund 30 Prozent der mehr als 500.000 Diakonie-Angestellten arbeiten in der Pflege. Damit gehört der kirchliche Sozialkonzern zu den wichtigsten Anbietern der Branche. Diakonie-Präsident Ulrich Lilie (60) ist entsetzt über Lohndumping in der Pflege – und er kritisiert, wie verantwortungslos die Politik mit alten Menschen in ihrer letzten Lebensphase umgeht.

Zu wenig Pflegekräfte, zu wenig Geld, zu schlechte Versorgung – die Pflegebranche ist seit Jahren ein politisches Krisenthema. Warum tut sich so wenig?

Ulrich Lilie: Das Thema ist in seiner Tragweite noch nicht bei allen angekommen. Wir müssen uns in unserer Gesellschaft darüber verständigen, was uns das vierte Gebot eigentlich noch wert ist: Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren. Was sind wir bereit aufzubringen, damit unsere Eltern und Großeltern in Würde im hohen Alter leben können?

Ist es würdelos, was sich in deutschen Pflegeeinrichtungen abspielt?

Teilweise ja. Denn die Pflegekräfte sind oft überfordert. Das Durchschnittsalter der Bewohner beim Einzug in die Pflege liegt beispielsweise in einer Stadt wie Düsseldorf bei 87,5 Jahren. Die Menschen sind nicht nur sehr alt, sondern haben in der Regel mehrere Vorerkrankungen. Vom ersten Tag an ist die Pflege sehr anspruchsvoll, um diese Menschen angemessen zu begleiten.

Leider werden die Alten dann viel zu häufig in Krankenhäuser eingeliefert, weil die Mitarbeiter angesichts der Stellensituation sichergehen wollen und Hausärzte oft nicht zur Verfügung stehen. Viele Pflegeeinrichtungen sind längst zu Hospizen für Hochaltrige geworden. Hier braucht es eine deutliche Weiterentwicklung in der angemessenen palliativen Begleitung der Hochaltrigen.

Der Pflegeberuf ist den tatsächlichen Aufgaben nicht gewachsen?

Der Pflegeberuf muss weiterentwickelt werden. Pflege wird immer anspruchsvoller, die Krankheitsbilder immer komplizierter. Nicht nur in Norwegen ist die Pflege zum akademischen Beruf geworden. Dort wird der Pflegeberuf neben der besseren Qualifikation ganz anders bezahlt und genießt ein viel höheres gesellschaftliches Ansehen. Norwegen ist ein Vorbild: Wie dort sollten auch hier akademisch ausgebildete Pflegekräfte wie Ingenieure bezahlt werden.

Das wäre sehr teuer.

Deswegen die Erinnerung an das vierte Gebot. Was sind uns unsere Eltern und Großeltern wert? Leider gibt es nach wie vor keine vernünftige Finanzierung der Pflege. Die Krankenkassen müssen ihren Teil jetzt leisten. Wir brauchen von ihnen drei Milliarden Euro zusätzlich pro Jahr für die Finanzierung der medizinischen Behandlungspflege in stationären Pflegeeinrichtungen aus der Krankenversicherung. Das Geld haben sie.

Wir müssen auch darüber reden, wie wir die Pflegeversicherung dauerhaft finanziell besser ausstatten – etwa mit einer moderaten Anhebung oder mit einer Orientierung der Beitragsbemessungsgrenze an den Rentenversicherungsbeiträgen oder über eine steuerliche Mitfinanzierung. Die Pflege braucht dringend sowohl eine bessere Personalausstattung als auch eine bessere fachliche Qualifikation sowie einen höheren Pflegefachkräfteanteil.

Der Mindestlohn in der Pflege liegt bei gut zehn Euro. Warum so niedrig?

Diakonie-Präsident Ulrich Lilie.
Diakonie-Präsident Ulrich Lilie. © Stefan Beetz

Das ist der Mindestlohn für Hilfskräfte. Es gibt zu viele Interessen, die höheren Löhnen entgegenstehen. Internationale Investoren haben den sozialen Markt in Deutschland entdeckt und sehen darin ein reines Renditegeschäft. Dieses Geschäft lohnt sich besonders in Deutschland, weil es den alten Menschen hier im europäischen Vergleich finanziell noch besonders gut geht. So werden jedes Jahr in Deutschland Dutzende Pflegeheime von Investoren gebaut, die natürlich eine Rendite von mindestens zehn Prozent erwarten. 70 bis 80 Prozent der Kosten in der Pflege sind Lohnkosten. Und da wird dann gespart.

Pflegekräfte sind besonders häufig krank im Vergleich zu anderen Berufen. Wundert Sie das?

Leider nein. Der Beruf ist körperlich und emotional unglaublich kräftezehrend. Es gibt in der Pflege nicht nur das Pro­blem, dass die Arbeitskräfte ausbrennen, sondern auch auskühlen. Neben dem Burnout ist das neue Phänomen der ­Coolout. Die Pflegenden verlieren angesichts der nicht mehr zu bewältigenden Aufgaben ihre Empathie. Sie werden zynisch und emotional stumpf. Auch aus Selbstschutz. Das ist alarmierend! Die Rahmenbedingungen dürfen die Menschen in den Pflegeberufen nicht kaputt machen. Daher brauchen wir die Debatte so dringend, was diese Aufgaben unserer Gesellschaft wert sind.

Den meisten deutschen Rentnern geht ausgesprochen gut, dafür sorgt die Politik. Aber in der letzten Lebensphase werden die Alten von der Politik offenbar verlassen.

Politik wurde schon immer für die gemacht, die wählen gehen. Hochaltrige spielen da keine Rolle mehr. Deshalb kann man sie politisch vernachlässigen. Das ist reines Kalkül. Ich kann die Politik nur warnen: Wenn wir keine anständige Versorgung der ganz alten Menschen hinbekommen, werden wir sehen, dass der assistierte Suizid für viele zur echten Alternative wird. Uns werden dann die guten Argumente dagegen fehlen. Sehr alt und pflegebedürftig zu werden, darf in Deutschland keine Horrorvorstellung werden. Wenn das aber so ist, sagen sich immer mehr Leute: Das erspare ich mir, ich fahre lieber in die Schweiz und lasse mir einen Giftcocktail geben.

Ist Sterbehilfe am Ende der würdevollere Tod?

Das denken zu viele Menschen. Sie haben große Befürchtungen, irgendwann nur noch Qualen zu leiden und allen eine Last zu sein. Es gibt natürlich die viel bessere, würdevolle Alternative zum assistierten Suizid: eine qualifizierte und empathische Pflege – auch für hochaltrige Sterbende. Es gibt sehr gute medizinische und pflegerische Möglichkeiten, Menschen mit schwersten Krankheiten würdevoll aus dem Leben zu geleiten. Es kann nicht sein, dass unsere Gesellschaft irgendwann den Giftcocktail als ideale Lösung fürs Lebensende betrachtet. Der natürliche und würdevolle Tod muss das Ziel einer humanen Gesellschaft sein.