Madrid/Berlin. Die Separatisten in Katalonien setzen überraschend die Wahl des Regionalpräsidenten auf die Tagesordnung. Der verfehlt die Mehrheit.

Es ist der dritte Versuch, in der spanischen Konfliktregion Katalonien einen neuen Ministerpräsidenten zu wählen. Der Kandidat heißt Jordi Turull und gilt als separatistischer Hardliner. Die drei Parteien, die Katalonien von Rest-Spanien abtrennen wollen, hatten für Donnerstagabend im Regionalparlament in Barcelona die Wahl Turulls anberaumt. Doch der Plan ging nicht auf.

Die linksradikale Partei CUP, auf deren vier Stimmen die separatistischen Listen JuntsPerCat und ERC im Parlament von Barcelona angewiesen sind, entschieden vor der Abstimmung am Donnerstag, sich der Stimme zu enthalten. Damit erreichte Turull am Abend nicht die im ersten Wahlgang erforderliche absolute Mehrheit. Ein zweiter Wahlgang, bei dem eine einfache Mehrheit genügt, würde erst in 48 Stunden stattfinden – aber da könnte der 51-Jährige bereits im Gefängnis sein. Er wurde für Freitag zu einer Anhörung geladen. „Ergebnis der Anhörung kann durchaus wegen nunmehr eventuell bestehender Flucht- oder Wiederholungsgefahr die Anordnung der Untersuchungshaft sein“, sagte der in Barcelona ansässige Anwalt Carlos Wienberg der Deutschen Presse-Agentur.

Der Kampf David gegen Goliath geht damit in eine neue Runde. Nach dem Unabhängigkeitsreferendum und den Massendemonstrationen hatten sich die Wogen an der nordostspanischen Küste zunächst geglättet. Die Zentralregierung in Madrid hatte nach den mutmaßlichen Gesetzesbrüchen der Separatisten die Puigdemont-Regierung abgesetzt. Bis eine neue legale Regionalregierung in Barcelona im Amt ist, wird Katalonien von Madrid aus kommissarisch verwaltet.

Die Situation schien sich zu beruhigen – zumindest oberflächlich. Die Zahl der ausländischen Besucher, die auf dem Höhepunkt der Katalonien-Krise im Herbst zurückgegangen war, steigt wieder. „Das Schlimmste scheint überstanden“, sagt ein Mitarbeiter des örtlichen Fremdenverkehrsbüros. Auch die Polizeisondereinheiten, die von Madrid in die spanische Krisenregion geschickt worden waren, sind abgezogen.

Doch mit der plötzlich auf die Tagesordnung gesetzten Wahl des neuen Regionalpräsidenten bekommt der alte Konflikt neue Nahrung. Den Schlüssel hatte die kleine linksradikale Bewegung CUP in der Hand, die darauf drängte, dass Turull sich zu weiteren konkreten Schritten auf dem Weg zu einem eigenen katalanischen Staat verpflichtet.

Viele Katalanen fühlen sich von der spanischen Zentralregierung diskriminiert und wirtschaftlich benachteiligt. Die wohlhabende Region steuert rund 20 Prozent zur nationalen Wirtschaftsleistung bei, muss aber nach Einschätzung der Separatisten zu viel Geld nach Madrid abführen.

Berufsverbot steht im Raum

Parlamentschef Roger Torrent, der dem Separatistenlager angehört, wies den Vorwurf der pro-spanischen Opposition zurück, dass diese nur Stunden zuvor angekündigte Express-Abstimmung ein Verstoß gegen die demokratischen Spielregeln sei. Dies sei „eine ganz normale Ministerpräsidentenwahl“, sagte Torrent. Auch wenn Spaniens Justiz gegen Turull ermittele, verfüge dieser über „alle politischen Rechte“ und könne somit zur Wahl antreten.

Mit dem überstürzten Wahlgang reagierten die katalanischen Separatisten auf die Ankündigung des obersten Gerichtshofes, an diesem Freitag formell Anklage gegen Turull und andere prominente Separatisten zu erheben. Ihnen wird vorgeworfen, auf illegale Weise die Abtrennung Kataloniens von Spanien betrieben zu haben.

Und zwar mit einem gegen Spaniens Verfassung verstoßenden Unabhängigkeitsreferendum und einer Abspaltungserklärung. Durch die Erhebung einer Anklage könnte der Gerichtshof sogar den Beschuldigten verbieten, politische Ämter auszuüben – ein mögliches Berufsverbot, das die Betreffenden aber anfechten wollen.

Turull ist ein Vertrauter des Separatistenchefs und früheren Ministerpräsidenten Carles Puigdemont. Der 51-Jährige, Ex-Sprecher Puigdemonts, war in der Vergangenheit ein glühender Verfechter einer radikalen Unabhängigkeitspolitik. Er gehört Puigdemonts Wahlliste Junts per Catalunya (Zusammen für Katalonien) an, die bei der Regionalwahl im Dezember mit 21,7 Prozent stärkste Partei des Separatistenblocks geworden war.

Der Gerichtshof ermittelt gegen 28 Separatisten

Die Unabhängigkeitsbewegung hatte mit insgesamt 47,5 Prozent der Stimmen die absolute Mehrheit der Parlamentssitze erobert. Doch ob Turull, der bereits in Puigdemonts früherer Separatistenregierung saß, sein Amt auch ausüben kann, ist noch unklar. Der oberste Gerichtshof ermittelt gegen ihn wegen Rebellion, Anzettelns von Aufruhr und Veruntreuung von Millionengeldern.

Deswegen verbrachte er bereits einen Monat in Untersuchungshaft, wurde dann aber gegen Auflagen und Kaution freigelassen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich Spaniens König Felipe VI. weigert, Turulls Ernennungsurkunde wegen der laufenden Ermittlungen zu unterschreiben.

Am Freitag könnte zudem die Freiheit Turulls erneut eingeschränkt werden: Denn Turull muss vor dem zuständigen Untersuchungsrichter Pablo Llarena erscheinen, der überprüfen will, ob sich Turull an die Auflagen für seine provisorische Freiheit hält.

Gerichtshof ermittelt gegen 28 Separatisten

Zu den Auflagen gehört zum Beispiel, dass sich Turull nicht erneut dem Verdacht aussetzen darf, Straftaten zu begehen. Der Richter könnte jedoch die Fortsetzung der unilateralen Unabhängigkeitsbestrebungen als „Wiederholungsgefahr“ interpretieren. Mit der Folge, dass Turull wieder U-Haft droht. Davor würde ihn auch seine Wahl zum Ministerpräsidenten nicht schützen.

„Jordi Turull genießt nach Auffassung des mit dem Strafverfahren befassten obersten Gerichts in Madrid in dem laufenden strafrechtlichen Ermittlungsverfahren keine parlamentarische Immunität, obwohl das katalanische Autonomiestatut die Abgeordneten mit einer Immunität schützt und diese sich auch darauf berufen“, betont der in Barcelona ansässige Anwalt Carlos Wienberg. Es sei „durchaus möglich, dass Turull am Freitag als gewählter und im Amt befindlicher Präsident der ‚Generalitat de Catalunya‘ in Untersuchungshaft kommt“.

Der Gerichtshof ermittelt insgesamt gegen 28 Separatisten. Darunter befindet sich auch Puigdemont, der sich allerdings nach Belgien abgesetzt hatte und deswegen in Spanien mit Haftbefehl gesucht wird. Wegen seiner Probleme mit der spanischen Justiz war Puigdemonts Versuch gescheitert, sich aus der Ferne erneut zum Ministerpräsidenten wählen zu lassen. Auch die Nummer zwei auf Puigdemonts Wahlliste, Jordi Sànchez, musste seine Kandidatur für das katalanische Regierungsamt zurückziehen, weil er in U-Haft sitzt.

So wie es aussieht, wird der Konflikt auch mit einer Wahl Turulls nicht beendet sein. Die krisengeplagte Europäische Union hätte dann noch eine weitere Baustelle.