Brüssel. Der EU-Migrationskommissar Dimitris Avramopoulos sieht Asylzentren in Nordafrika skeptisch – und lobt private Retter im Mittelmeer.

Welchen Beitrag können Libyen und andere Staaten in Nordafrika leisten, um den Flüchtlingszustrom zu begrenzen? Einen großen, glauben Bundeskanzlerin Angela Merkel und der französische Präsident Emmanuel Macron. EU-Migrationskommissar Dimitris Avramopoulos bezweifelt das. Der Grieche verweist im Interview mit unserer Redaktion auf rechtliche, politische und praktische Probleme.

Kehrt die Flüchtlingskrise zurück, Kommissar Avramopoulos?

Dimitris Avramopoulos: Wir sind auf jeden Fall wesentlich besser vorbereitet, als wir es vor zwei Jahren waren. Die heutige Situation ist mit der Krise 2015 nicht zu vergleichen. Dank unserer Zusammenarbeit mit der Türkei ist die Zahl der Menschen, die in Griechenland ankommen, um 98 Prozent zurückgegangen. Jetzt sehen wir auch, dass in Italien im letzten Monat nur noch halb so viele Menschen angekommen sind wie im Juli 2016. Trotz dieser neuen positiven Trends darf unsere Aufmerksamkeit nicht nachlassen. Wir müssen stets bereit sein, neuen Migrationsbewegungen zu begegnen.

Und zwar wie?

Avramopoulos: In den letzten zwei Jahren haben wir praktisch Tag und Nacht daran gearbeitet, ein solideres System der Migrationssteuerung aufzubauen, das auch in Krisenzeiten funktioniert. Unsere europäische Grenz- und Küstenwache patrouilliert die Grenzen der EU zu Land und zu See. Derzeit sind über 1300 Sicherheitskräfte aus ganz Europa in Italien und Griechenland im Einsatz.

Beide Länder wurden durch die Umverteilung von Flüchtlingen unterstützt; über 25.000 Personen haben in anderen Mitgliedstaaten eine neue Heimat gefunden. Das ist gelebte europäische Solidarität! Außerdem haben wir mehr EU-Mittel bereitgestellt als je zuvor, um die Mitgliedstaaten beim Ausbau ihrer Kapazitäten zur Bearbeitung von Asylanträgen zu unterstützen und unsere gemeinsamen Außengrenzen zu sichern – insgesamt über 7,4 Milliarden Euro von 2015 bis 2017.

Gelingt es, den Schleppern das Handwerk zu legen?

Avramopoulos: Wir brauchen eine solide Kooperation, politische Entschlossenheit und absolute Kompromisslosigkeit im Umgang mit Menschenhändlern. Schleuser zu bekämpfen und ihre Aktivitäten zu unterbinden ist heute mehr denn je unsere Priorität. Die Operation „Sophia“, die speziell dafür eingesetzt wurde, hat bereits zur Verhaftung von rund 110 mutmaßlichen Schleusern und Menschenhändlern beigetragen und hat mehr als 470 Boote aus dem Verkehr gezogen.

Wir tun unser Möglichstes, um die Zusammenarbeit mit den am stärksten betroffenen Ländern zu vertiefen und diese beim Schutz ihrer Land- und Seegrenzen zu unterstützen. Dafür bieten wir Schulungen und Material an. So haben wir zum Beispiel unsere Unterstützung der libyschen Grenz- und Küstenwache verstärkt, damit sie in der Lage sind, ihre Landesgrenzen wirksam zu überwachen.

Regeln für die Retter

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    Welche Rolle spielen Nichtregierungsorganisationen im Mittelmeer? Deutsche Politiker kritisieren, die Retter erleichterten den Schleppern das Geschäft…

    Avramopoulos: Die Mehrheit der Nichtregierungsorganisationen hilft uns bei unseren Bemühungen, Leben zu retten. Angesichts der Situation auf See ist Koordinierung dabei ausschlaggebend. Italien hat einen Verhaltenskodex vorgeschlagen, damit für alle Beteiligten ganz klare Regeln gelten. Wir unterstützen diese Initiative. Menschenhändler sind unsere größten Gegner. Deswegen möchte ich alle Organisationen auffordern, sich an dieser Initiative zu beteiligen. Je breiter die geeinte Front, desto leichter wird es sein, die Schleppernetzwerke zu zerschlagen.

    Kann die EU – nach dem Vorbild der Türkei – Flüchtlingsabkommen mit Staaten in Nordafrika schließen?

    Avramopoulos: Wir müssen auf die jeweilige Situation, die Bedürfnisse und Erwartungen der einzelnen Länder schauen und unsere Kooperation darauf zuschneiden. Die politischen und diplomatischen Dimensionen können wir nicht ignorieren. Unser Ziel ist es, unsere Beziehungen zu den Ländern Nordafrikas zu stärken, um gemeinsam die Migrationsströme zu steuern.

    In Deutschland gibt es Forderungen nach Auffanglagern in Nordafrika, etwa in Libyen. Dort - und nicht erst in Europa – sollen die Asylanträge gestellt werden. Ist das machbar?

    Avramopoulos: Die Bearbeitung von Asylanträgen ist komplex – rechtlich, diplomatisch und auch praktisch. Wir helfen Migranten, indem wir die Staaten Nordafrikas unterstützen, eigene Asylsysteme zu entwickeln und gut funktionierende Empfangszentren zu gründen. Mit den EU-Mitgliedstaaten arbeiten wir an der legalen Neuansiedlung von Migranten mit Anspruch auf internationalen Schutz in Europa. Dabei unterstützen wir die Mitgliedstaaten finanziell, für 2018 haben wir 377 Millionen Euro beiseitegelegt.

    Über die von der Internationalen Organisation für Migration geführten Transitzentren im Niger haben wir in diesem Jahr über 6000 gestrandeten Migranten geholfen, freiwillig in ihre Heimatländer zurückzukehren. Um in Libyen aktiv zu werden, bleiben die Bedingungen schwierig, bis das Land stabilisiert ist. Dafür müssen wir alle Kräfte einsetzen und auch mit den Nachbarländern Libyens arbeiten. Es gibt produktive Kontakte mit Ägypten, auch Algerien zeigt Bereitschaft zur Zusammenarbeit.

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    Können Sie verstehen, wenn einzelne EU-Staaten zur Selbsthilfe greifen, Österreich etwa den Brenner schließt?

    Avramopoulos: Grenzschließungen sind keine Lösung. Wir alle tragen die Verantwortung, die größte Errungenschaft der Europäischen Union zu verteidigen: Schengen. Migration ist eine europäische Herausforderung, deswegen dringen wir auf europäische Lösungen. Die Mitgliedstaaten können selbstverständlich Polizeikontrollen in ihren Territorien und in den Grenzregionen machen. Dies bedeutet nicht, dass die Grenzkontrollen wieder eingeführt werden.

    Wir haben empfohlen, dass die Mitgliedstaaten die polizeiliche Zusammenarbeit verbessern und bei Bedarf die Polizeikontrollen in den Grenzregionen nutzen – die sind flexibler als die internen Grenzkontrollen und können ebenso wirksam sein. Wir ermutigen unsere Mitgliedstaaten, diese Möglichkeiten zu nutzen und arbeiten bei der Umsetzung vor Ort eng mit ihnen zusammen.

    Schiebt Deutschland abgehnte Asylbewerber konsequent genug ab?

    Avramopoulos: Wir brauchen eine strengere und effektivere Politik für Rückführungen. Das ist ein unverzichtbarer Aspekt einer gut funktionierenden Migrationspolitik. Es werden zu wenige Migranten repatriiert, die europäischen Staaten müssen mehr tun. Das ist unerlässlich, um das öffentliche Vertrauen in das Asylsystem der EU zu wahren und um weiter diejenigen unterstützen zu können, die wirklich internationalen Schutz benötigen.