Berlin. Fast 18 Millionen Wahlberechtigte gingen 2013 nicht zur Bundestagswahl in Deutschland. Wer sind sie? Und warum handeln Nichtwähler so?

Es war ein eindringlicher Satz. „Sie müssen wahrscheinlich einmal in Nordkorea oder in China leben, damit sie wissen, was Wahlfreiheit bedeutet“, sagte der in Deutschland lebende chinesische Autor Liao Yiwu vor der Bundestagswahl 2013 über „solche Leute“. Er meinte: die Nichtwähler. Am Ende gingen dann fast 18 Millionen Deutsche nicht zur Wahl. Eine erschreckend hohe Zahl. Die Wahlbeteiligung lag damit bei nur 71,5 Prozent: Der zweitschlechteste Wert bei einer Bundestagswahl überhaupt – nach 2009 (70,8 Prozent).

Auch dieses Jahr wird es vor der Bundestagswahl wieder viele Appelle geben. Und doch werden auch am 24. September viele Deutsche nicht zur Wahl gehen. Wer sind diese Menschen? Und warum handeln sie so?

Nichtwähler sind unterdurchschnittlich gebildet

Zu den Nichtwählern gehören vor allem Menschen mit unterdurchschnittlicher Bildung und geringem Einkommen. Sie fühlen sich von der Politik nicht verstanden. „Gerade in dieser Gruppe sind viele Dauernichtwähler“, sagt Peter Matuschek, Politik-Chef des Umfrageinstituts Forsa. „Das könnte gefährlich werden: Denn diese Gruppe droht damit nicht nur sozial den Anschluss zu verlieren, sondern auch politisch.“

Die Spitzenkandidaten der Bundestagswahl

Sie ist zum vierten Mal angetreten und siegte erneut: Bundeskanzlerin Angela Merkel hat mit ihrer Partei CDU die Wahl gewonnen – wenn auch mit herben Verlusten: 26,8 Prozent holten die Christdemokraten. Das sind 7,3 Prozent weniger als bei der Wahl 2013.
Sie ist zum vierten Mal angetreten und siegte erneut: Bundeskanzlerin Angela Merkel hat mit ihrer Partei CDU die Wahl gewonnen – wenn auch mit herben Verlusten: 26,8 Prozent holten die Christdemokraten. Das sind 7,3 Prozent weniger als bei der Wahl 2013. © dpa | Michael Kappeler
Auch für Bayerns Innenminister Joachim Herrmann, der als Spitzenkandidat der CSU in den Wahlkampf zog, hatte das schlechte Abschneiden seiner Partei Folgen: Zwar haben alle Direktkandidaten der CSU den Sprung in den Bundestag geschafft – von der Landesliste gelang das aber keinem. Darunter auch Herrmann.
Auch für Bayerns Innenminister Joachim Herrmann, der als Spitzenkandidat der CSU in den Wahlkampf zog, hatte das schlechte Abschneiden seiner Partei Folgen: Zwar haben alle Direktkandidaten der CSU den Sprung in den Bundestag geschafft – von der Landesliste gelang das aber keinem. Darunter auch Herrmann. © dpa | Matthias Balk
Als der ehemalige EU-Parlamentspräsident Martin Schulz zum Kanzlerkandidaten der SPD ernannt wurde, waren die Hoffnungen auf einen Machtwechsel groß. Sie zerschlugen sich: Mit Schulz als Spitzenkandidat fuhr die SPD mit 20,5 Prozent des schlechteste Ergebnis überhaupt ein.
Als der ehemalige EU-Parlamentspräsident Martin Schulz zum Kanzlerkandidaten der SPD ernannt wurde, waren die Hoffnungen auf einen Machtwechsel groß. Sie zerschlugen sich: Mit Schulz als Spitzenkandidat fuhr die SPD mit 20,5 Prozent des schlechteste Ergebnis überhaupt ein. © REUTERS | FABRIZIO BENSCH
Cem Özdemir und die Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt gingen als Spitzenduo in die Bundestagswahl. Nachdem die Grünen laut Umfragen zeitweise um den Einzug in den Bundestag bangen mussten, holten sie am Ende souverän 8,9 Prozent.
Cem Özdemir und die Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt gingen als Spitzenduo in die Bundestagswahl. Nachdem die Grünen laut Umfragen zeitweise um den Einzug in den Bundestag bangen mussten, holten sie am Ende souverän 8,9 Prozent. © imago | Jens Jeske
Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch wollten den Platz der Linken als drittstärkste Kraft im Bundestag unbedingt verteidigen. Zwar holten sie 9,2 Prozent und damit mehr als bei der letzten Wahl 2013. Stärkste Opposition ist die Linke aber nicht mehr. Diesen Platz nimmt nun ausgerechnet die AfD ein.
Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch wollten den Platz der Linken als drittstärkste Kraft im Bundestag unbedingt verteidigen. Zwar holten sie 9,2 Prozent und damit mehr als bei der letzten Wahl 2013. Stärkste Opposition ist die Linke aber nicht mehr. Diesen Platz nimmt nun ausgerechnet die AfD ein. © dpa picture alliance | Emmanuele Contini
Christian Lindner ist das Gesicht der FDP – und konnte die FDP wieder in den Bundestag bringen. Nur die AfD konnte den Liberalen, die 10,7 Prozent holten, den dritten Platz streitig machen.
Christian Lindner ist das Gesicht der FDP – und konnte die FDP wieder in den Bundestag bringen. Nur die AfD konnte den Liberalen, die 10,7 Prozent holten, den dritten Platz streitig machen. © picture alliance / Maurizio Gamb | dpa Picture-Alliance / Maurizio Gambarini
Alice Weidel und Alexander Gauland haben die AfD als Spitzenkandidaten auf Platz drei geführt. Insgesamt holten die Rechtspopulisten 12,6 Prozent.
Alice Weidel und Alexander Gauland haben die AfD als Spitzenkandidaten auf Platz drei geführt. Insgesamt holten die Rechtspopulisten 12,6 Prozent. © picture alliance / Uli Deck/dpa | dpa Picture-Alliance / Uli Deck
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Auffällig ist auch der Unterschied zwischen den Bundesländern. „Im Osten ist die Wahlbeteiligung traditionell niedriger als im Westen“, sagt Matuschek. Das habe mit der Diktaturerfahrung in der DDR zu tun. „Und es hat auch zu tun mit der Zeit nach der Einheit: Eine starke Minderheit fühlt sich als Verlierer der Einheit. Diese Menschen wählen die Linke, in letzter Zeit zum Teil auch die AfD, oder aber sie wählen gar nicht.“

Erstwähler geht noch häufig zur Wahl

Der Ost-West-Unterschied wird auch bei einem Blick auf einzelne Wahlkreise deutlich: Nirgendwo gingen 2013 weniger Menschen zur Bundestagswahl als im Wahlkreis Harz in Sachsen-Anhalt (58,9 Prozent) und im benachbarten Wahlkreis Anhalt (59,4 Prozent). Die höchste Beteiligung gab es in Ludwigsburg in Baden-Württemberg (80,2 Prozent) und in Berlin-Steglitz-Zehlendorf (79,9 Prozent).

Hinzu kommt: Viele junge Menschen sind Nichtwähler. Die Erstwähler, also die Gruppe 18- bis 21-Jährigen, gehen laut Matuschek noch relativ häufig zur Wahl, „weil sie zum ersten Mal wählen dürfen oder weil sie mit ihren Eltern zum Wahllokal gehen“. Die Gruppe der 22- bis 29-Jährigen gehe wieder deutlich seltener wählen, wobei die Motive der jüngeren ähnlich seien wie bei den älteren Nichtwählern: „Sie fühlen sich von den Parteien nicht angesprochen.“

Unzufrieden mit dem politischen Angebot

Die meisten Nichtwähler seien nicht demokratiefeindlich, glaubt Matuschek. Es gebe bei ihnen keine Grundverweigerung, sagt der Forsa-Politikchef. „Nur ein kleiner Teil der Nichtwähler hadert grundsätzlich mit der Demokratie.“ Viele Menschen fühlten sich gar nicht als Nichtwähler, sondern als Wähler im Wartestand, unzufrieden mit dem politischen Angebot. Laut Matuschek wird am 24. September die Wahlbeteiligung wie bei den Landtagswahlen steigen, vielleicht um zwei bis vier Prozentpunkte: „Martin Schulz hat durchaus SPD-Wähler mobilisiert – die CDU aber ihre Anhänger im Gegenzug noch stärker.“

Die wenigsten Nichtwähler in der Bundesreplik gab es im Jahr 1972: Nach einem gescheiterten konstruktiven Misstrauensvotum trat Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) in vorgezogenen Neuwahlen gegen Rainer Barzel (CDU) an. Die Wahl wurde zur Abstimmung über Brandts Ostpolitik, also die Annäherung an die Sowjetunion, die DDR und die übrigen Staaten des Warschauer Paktes. Viele Menschen gingen wählen – am Ende wurde die SPD erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik stärkste Partei. Nur 8,9 Prozent der Wahlberechtigten gingen nicht zur Wahl.

Wahlpflicht in Belgien, viele Nichtwähler in den USA

Im EU-Vergleich liegt Deutschlands Wahlbeteiligung im oberen Mittelfeld. Den höchsten Wert aller EU-Staaten erreicht Belgien mit 89 Prozent, wo es eine gesetzliche Wahlpflicht gibt. Offiziell droht eine Geldstrafe, de facto wird diese seit 2003 nicht mehr verhängt. In Deutschland steht eine Wahlpflicht nicht zur Debatte. So hatte 2013 Joachim Gauck als Bundespräsident eine Wahlpflicht mit dem Argument abgelehnt, Politiker und aktive Wähler sollten die Nichtwähler „durch Überzeugung für die Wahl gewinnen“.

Rumänien ist in der EU das Land mit den prozentual meisten Nichtwählern: Bei der letzten Parlamentswahl 2016 lag die Wahlbeteiligung bei unter 40 Prozent. Unter den bevölkerungsreichsten EU-Ländern verzeichnet Großbritannien seit Langem eine niedrige Wahlbeteiligung. Bei den Unterhauswahlen im Juni gingen 69 Prozent der Briten zur Urne. Niedriger fällt die Wahlbeteiligung traditionell in den USA aus: Bei der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten gingen nur geschätzt 60 Prozent der Bürger zur Urne.