Berlin. „Mister Europa“ Martin Schulz gilt als gut geerdet und kann wie nur wenige die Seele der Sozialdemokratie streicheln. Ein Porträt.

Dietmar Nietan kennt ihn gut, den neuen Superstar der SPD – seit über 20 Jahren. Sie kommen aus derselben Ecke im Rheinland, 30 Kilometer voneinander entfernt. Demnächst werden sie enger denn je zusammenarbeiten, der designierte Kanzlerkandidat und SPD-Chef Martin Schulz und Dietmar Nietan, Schatzmeister der Partei.

Es gibt nicht viele Leute in der SPD, die wirklich nah an Schulz herankommen. Sigmar Gabriel, der für ihn Platz macht, gehört dazu, ebenso Kurt Beck, der frühere Parteichef und schließlich Achim Großmann, der langjährige Abgeordnete aus Aachen, Strippenzieher, Mentor, ein echter Freund, einer, der ihm den Weg ebnete, als Schulz unten angelangt war, ganz unten, als er soff wie ein Loch und ein Alkoholiker war. Alte Geschichten.

Kampfschwein, Leseratte, verhinderter Fußballer

Vielleicht versteht man angesichts der Achterbahn, die Schulz sein Leben nennt, warum er für einen Politiker der Spitzenklasse nicht abgehoben ist. Nietan hat es in Brüssel so oft gehört – und nicht nur von Parteifreunden – , dass daran etwas Wahres sein muss: „Der ist ein Bürgermeister geblieben“, haben sie über Schulz gesagt. Das war nicht abschätzig gemeint, nicht als Ausweis der Provinzialität ausgelegt – es war der Respekt für einen Mann, der geerdet ist.

Wenn er von seiner Familie im Dreiländereck Deutschland, Belgien, Holland erzählt, deren Mitglieder in den Kriegen des 20. Jahrhunderts gegeneinander kämpfen mussten, dann kommen selbst politischen Konkurrenten die Tränen. Und wenn er in Gemeindesälen, Kirmeszelten oder auf Marktplätzen mit rheinischem Tremolo verkündet, wo es lang gehen muss – im vereinigten Europa – , ja, dann werden aus Abwehr-Germanen Internationalisten.

Der Buchhändler kann auch reingrätschen

Schulz ist ein ungemein effektiver Politikverkäufer. Sein Spektrum reicht von der intellektuellen Nachdenklichkeit des Bücherwurms bis zur verbalen Blutgrätsche des früheren Linksverteidigers von Rhenania Würselen. Mit ihm als Spitzenkandidaten kam die SPD bei der Europawahl auf 27,3 Prozent – in diesen harten Zeiten schon fast ein Traumwert.

Im Wahlkampf hat Nietan ihn als einen Mann erlebt, „der die Seele der Partei streichelt“ und jedem das Gefühl vermittelt, „ich stehe nicht auf der dunklen Seite der Macht“. Sondern auf der richtigen Seite. Das ist Teil des Geheimnisses, das hat Gabriel auch erkannt, als er in die SPD hineingehorcht hat. Die Nachricht von der K-Frage ist die definitive Antwort auf die Frage, über die sie erst in Straßburg und in Brüssel, dann vor allem auch in Berlin seit Wochen gerätselt haben: Was will Schulz? Die Antwort lautet: „Alles!“

CSU spricht von „Panikreaktion“

Auch Merkel zu stürzen, die Frau, die ihn schätzt, besser gesagt: seine Fähigkeit zum Kompromiss. Demnächst wird sie eine andere Seite kennen lernen: Das „Kampfschwein Schulz“, wie der FDP-Europaabgeordnete Lambsdorff ihn nennt. Ihm wird viel zugetraut, vielleicht mit Ausnahme der CSU, die seine Kür für eine Panikreaktion hält. „Kandidat Schulz ist das letzte Aufgebot“, sage CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer unserer Zeitung. Schulz werde keinen Erfolg haben.

Wann Schulz und Gabriel die Sache untereinander ausgemacht haben, lässt sich schwer sagen. Es gibt Leute in der SPD, die darauf wetten würden, dass der Mann aus Brüssel noch in der vergangenen Woche nicht wusste, woran er war und sich eher als Außenminister in spe wähnte. In SPD raunt man, sie hätten sich am Wochenende getroffen, „der Martin und der Siggi“.

Schulz verkaufte Endstation Brüssel positiv

Seit Schulz sich entschloss, Politiker zu werden, hat er mit einer Ausnahme (EU-Kommissionspräsident) alles erreicht, was er wollte. Und ungefähr genauso lange ist er für Überraschungen gut. Dabei sah es in Brüssel für ihn schon fast wie nach einer Sackgasse aus: Der ursprüngliche Plan, sich für weitere zweieinhalb Jahre zum Präsidenten des Europa-Parlaments wählen zu lassen, scheiterte an der Entschlossenheit der christdemokratischen EVP.

Es dauerte freilich nur eine Schrecksekunde, dann hatte Schulz keine Probleme, den Wechsel nach Berlin als geradezu schicksalhafte Bestimmung zu verkaufen: Zu diesem Zeitpunkt , da sich Europa in höchster Bedrängnis sehe durch Populisten, Halbdemokraten und multiple Krisen gebe es keinen besseren Kampfplatz, das historische Werk zu verteidigen, als die deutsche Hauptstadt.

Sturz von Gabriel war tabu

Seit 1994 saß der Mann im Parlament, und es war klar, dass der frühere Buchhändler sich – nach Brüssel – nicht in den Schaukelstuhl setzen würde. Denn erstens ist er vom Typ her ein Rastloser, und zweitens ist die Politik sein „Lebenselixier“. Es war klar, dass er nach Berlin drängte, zugleich aber auch, dass er nie Freund Gabriel stürzen würde.

Vom Temperament sind sie sich ähnlich. Schulz kann auch sehr emotional werden. Nur sind bei ihm die Ausbrüche seltener und fallen zumeist auch nicht so heftig aus wie bei Gabriel. In der Parteiführung haben viele auf ihn gesetzt. Am schnellsten muss jetzt Hannelore Kraft die Kurve kriegen, die NRW-SPD-Chefin, die bis zuletzt auf Gabriel und nicht auf ihren Landsmann gesetzt hatte. Dabei wird er in den nächsten Monaten bis zur Wahl in NRW wohl ihr wichtiger Mitstreiter sein. „Die NRW-SPD freut sich: Ein Nordrhein-Westfale fürs Kanzleramt“, schrieb sie aúf Twitter. „Glückwunsch Martin Schulz! Unsere Unterstützung hast Du.“

Gescheiterter Traum vom Fußballprofi

Schulz ist jetzt 61 Jahre alt. Entweder er schafft es, im Herbst Merkel abzulösen – oder der Wahlkampf schafft ihn. Mit dem Risiko kann er leben. Das konnte man über den Sohn eines Polizeibeamten und einer CDU-Lokalpolitikerin nicht immer sagen. Damals in den 80er Jahren ging für ihn eine Welt unter. Ein Traum platzte damals, der Traum vom Profikicker („Ich hatte nur Fußball im Kopf“), das gängige Drama: Meniskus-Verletzung, schwerer Kreuzbandschaden. Karriere futsch, kein Schulabschluss, von der Bundeswehr ausgemustert, von der Freundin auch, „ich war ziemlich in der Sackgasse“, erinnert er sich. Dann der Alkohol, der Absturz in jungen Jahren.

Die rettende Idee: Er macht sich als Buchhändler selbstständig, bis heute ist Schulz eine Leseratte geblieben. „Er liest wie ein Wahnsinniger“, sagen sie über ihn. Parallel zum Job mischt er in der Lokalpolitik mit und wird mit 31 Jahren Bürgermeister in der Kleinstadt Würselen. Schon damals beobachtet man bei ihm diesen Zug, der den Unverwüstlichen bis heute auszeichnet: der urwüchsige Drang nach oben. Er heiratet, wird Vater von zwei mittlerweile erwachsenen Kindern, bekommt sein Leben in den Griff, macht Schritt für Schritt in der Partei Karriere. Es ist kein Opa, den die SPD 1994 nach Europa schickt, es ist ein Politiker, der noch voll im Saft ist. Schulz ist 39 Jahre alt, als er nach Europa geht – es ist nicht der Endpunkt, es ist seine Startrampe.

Schulz war schon Netzwerker, als es den Begriff nicht gab

In Straßburg kommt dem frankophilen Sozialdemokraten, der ein Haus in der Bretagne besitzt, in Morlaix, sein rheinisches Naturell zugute: Er kann mit Menschen, kungeln, Kompromisse handeln. Schulz war schon Netzwerker, als man den Begriff noch gar nicht kannte.