Washington: Der Sturm auf das Capitol zeigt, was ein Demagoge anrichten kann. Verlust der Gesprächsfähigkeit gefährdet die Demokratie – auch bei uns.

"Politische Klugheit verlangt, dass man beim Kampf für das Gute die richtigen Mittel anwendet." - Frank-Walter Steinmeier

Ein amtierender, wenngleich abgewählter Präsident tobt und wütet, weil er die Niederlage nicht fassen kann. Er verbreitet über Wochen unbelegte Behauptungen des Wahlbetrugs. Als das Wahlergebnis endlich unverrückbar feststeht – seine Partei muss zugleich erkennen, dass sie keiner der beiden Parlamentskammern mehr die Mehrheit hat - fordert er seine Anhänger auf, sie sollten zum Parlament ziehen. Dort sind die Abgeordneten im Begriff, den Wahlsieg seines Kontrahenten Joe Biden festzustellen. Seine Anhänger verstehen ihn genauso, wie es gemeint war: Macht Druck. Aus dem Demonstrationszug wird ein Sturm aufs Parlament. Am Ende stehen Todesopfer, Erschütterung bei den Demokraten überall auf der Welt und eine Mischung aus Schadenfreude und Verachtung bei den Diktatoren von Moskau bis Teheran.

Die amerikanische Demokratie hat diese Woche schweren Schaden genommen. Auch wenn die Lage bald wieder unter Kontrolle kam – der schiere Beweis der Möglichkeit, dass eine Gruppe dem Parlament und damit dem Land seinen Willen aufzwingen könnte, wird nachwirken. Und Donald Trumps Maßlosigkeit wird einmal mehr ungeahndet bleiben. Es ist kaum zu erwarten, dass er wegen seiner Hetze angeklagt wird, auch wenn seine Verantwortung für die Toten dieser Woche ebenso klar zutage tritt wie bei den Unruhen im Zusammenhang mit rassistischen Polizei-Übergriffen, die er immer weiter angeheizt hatte.

Krise des Justizsystems

Einzelne seiner Parteifreunde scheinen aufzuwachen. Forderungen nach Trumps Absetzung machen die Runde. Aber auch das wird kaum geschehen. Seine Republikaner sind ihm mehrheitlich entweder verpflichtet oder fürchten seine Wählermacht - und neuerdings ein wieder prallgefülltes Spendenkonto, mit dessen Hilfe er weiter agitieren kann.

In einem Land, in dem man für Kleinkriminalität schnell und lange hinter Gitter wandert, vor allem, wenn man dunkle Haut hat, stellt sich einer über das Recht. So etwas hält selbst eine gefestigte Demokratie wie die der Vereinigten Staaten nicht unbegrenzt aus. Wären Trumps offensichtlich unbegründete Klagen gegen die Wahlergebnisse in einzelnen US-Bundesstaaten von den Gerichten nicht so konsequent abgewiesen wurden, würde zur politischen auch noch eine Krise des Justizsystems kommen.

Vereinigten Staaten haben Grundkonsens verloren

Die Akzeptanz tragender Institutionen des Staates war bei Trumps Anhängern längst verloren, die Verachtung gegen „das System“ ist ein Identitätsstifter des Trump-Lagers. Hätten auch die Liberalen, die Afroamerikaner das Vertrauen verloren, wäre jede denkbare Eskalation möglich geworden. Die USA waren der Gefahr bürgerkriegsähnlicher Zustände seit der Ermordung Martin Luther Kings nicht mehr so nahe.

Mit Joe Biden hat Amerika noch eine Chance bekommen. Aber die Radikalisierung, die Trump erzeugt, wird den Brückenschlag erschweren. Die Vereinigten Staaten haben ihren Grundkonsens verloren. Und weil insbesondere Trumps Lager die Angewohnheit entwickelt hat, rationale Diskussion durch Demagogie und Fakten durch Erfindung zu ersetzen, ist kaum zu erkennen, mit welchen Beiträgen sich der Grand Canyon verfüllen ließe, der sich durch die US-Gesellschaft zieht. Konsens lässt sich nicht bilden, wenn auch nur eine Seite den Blick auf das verweigert, was ist.

Fähigkeit zum funktionalen Kompromiss

Dieses Phänomen lernen wir leider auch in Deutschland kennen. Mit Corona ist bei einer erstaunlichen Zahl unserer Mitbürger das Missverständnis entstanden, Meinungsfreiheit bedeute, dass wissenschaftlich Erkenntnis per Leugnung vom Tisch gewischt und von gewählten Volksvertretern und Regierungen beschlossene Regeln ignoriert werden dürften. Von Trump zum Corona-Leugner unseres Misstrauens führt bei aller Unterschiedlichkeit eine gerade Linie. Beide setzen ihren Standpunkt absolut, beide nehmen nicht zur Kenntnis, was nicht in ihr Bild passt. Und beide sind damit für offenes Gespräch nicht erreichbar.

Die trumpistische Mentalität ist eine schwere Gefahr für jede Demokratie. Dieses System beruht zwar auf dem freien Wettbewerb der Weltanschauungen und Konzepte – aber eben auch auf der Fähigkeit aller Beteiligten, zum funktionalen Kompromiss zu finden. Demokratische Freiheit setzt auch voraus, dass grundlegende Vereinbarungen von allen akzeptiert werden. Dies einzufordern, ist in diesen Tagen ein besondere schwierige Aufgabe des Staates. Sie erfordert Augenmaß.

Schaden an der Substanz dieser Betriebe

Wenn man so will, bewährt sich die Staatskunst dieser Tage im Vollkontakt mit dem Alltag der Bürgerschaft; praktikable Regelungen, gut erklärt, ersparen der Polizei furchtbare Szenen und der Demokratie ein Akzeptanzproblem. Wäre der Schupo am Heiligen Abend durch die Familienwohnzimmer getigert, um Ausweise, Verwandtschaftsgrade und Wohnsitze zu kontrollieren, hätte die Politik den Konsens-Verweigerern in die Karten gespielt. Jeder von ihnen hätte sagen können: „Seht her, da ist sie, die Hygiene-Diktatur.“

Wir bewegen uns auf dünnem Eis. Der löchrige Lockdown, frisch verlängert, hat Gott sei Dank bisher keinen sichtbaren und schweren volkswirtschaftlichen Schäden angerichtet. Die Wörter „bisher“ und „sichtbar“ sind wichtig, weil Handel, Gastronomie, Kinos und viele andere von Auszehrung bedroht sind. Schaden an der Substanz dieser Betriebe, die so wichtig sind für das Leben in unseren Städten und Gemeinden, ist leider zu erwarten. Trotz dieses hohen, für jeden erkennbaren Preises ist der Lockdown durchschlagende Wirkung schuldig geblieben.

Keine "Hygiene-Diktatur"

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich die Regierungen scheuen, die Konsequenzen zu ziehen. Die Verlängerung einer eingeschränkt wirksamen Maßnahme wird kaum die Lösung bringen, auch wenn man 15-Kilometer-Kreise um hochbrisante Hotspots zieht, die kaum zu kontrollieren sind. Zumal nicht in jenen Tälern der Ahnungslosen, in denen man selbst bei Inzidenzwerten jenseits der 300 noch bestritt, dass Corona gefährlich sei.

Es wird nicht anders gehen, als dass der um Konsens bemühte Staat Grenzen setzt und durchsetzt, wo notwendige Einsicht mit anderen Mitteln nicht zu erreichen ist. Das ist dann nicht Hygiene-Diktatur, sondern verantwortliches Handeln, das Glaubwürdigkeit, Verbindlichkeit und Vertrauen schafft. Es ist das genaue Gegenteil des Trumpismus.

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