Braunschweig. Chefredakteur Armin Maus spricht über die Amokfahrt in Trier und über den Zusammenhalt von Menschen, wie bei der Initiative “Yeswecan!cer“.

"Lasst uns nicht vergessen, wie zerbrechlich wir sind." - Sting, „Fragile“

Trier hielt inne. Um 13.46 Uhr stand am Donnerstag vier Minuten lang das öffentliche Leben still – genau so lange hatte die Amokfahrt gedauert, die ganz Deutschland erschüttert. Viele Menschen versammelten sich zum Gedenken an die Opfer, an fünf Tote, darunter ein neun Wochen altes Baby und dessen Vater, und 18 Verletzte. Ein 51-Jähriger hatte offenbar gezielt Jagd auf die Menschen gemacht, die sich zufällig gerade in der Fußgängerzone aufhielten.

Thomas Roth, der Chefredakteur des Trierischen Volksfreunds und unseren Leserinnen und Lesern als stellvertretender Chefredakteur unserer Zeitung in guter Erinnerung, hat im Interview geschildert, was diese grauenhafte Tat mit der Stadt und ihren Menschen macht. Er berichtete von Fassungslosigkeit, von einem weinenden Oberbürgermeistern, von Rettungssanitätern, die ihre schwere Arbeit leisteten, obwohl sie selbst von der Erschütterung übermannt wurden. Und er ließ uns Anteil nehmen am Zusammenhalt der Trierer, an ihrer Hilfsbereitschaft und ihrer gemeinsamen Suche nach Perspektive.

Tat verschließt sich rationaler Erklärung

Trier ist eine schöne, eine intakte Stadt, gesegnet mit Zeugnissen römischer Geschichte, einer prachtvollen Altstadt und einer liebenswerten Fußgängerzone. In jedem gewöhnlichen Jahr hätte in dieser Fußgängerzone, dem Hauptanziehungspunkt, der Weihnachtsmarkt stattgefunden. Betonbarrieren hätten den Markt gesichert, der Amokfahrer hätte keine Chance gehabt, in die Einkaufsstraße einzufahren. Corona verhinderte den Markt. Man würde von einer Ironie des Schicksal sprechen, wenn der Begriff nicht so rettungslos inadäquat wäre, angesichts des Leides so vieler Menschen.

Die Tat verschließt sich jeder rationalen Erklärung. Der Täter, so hören wir, ist ein Säufer, einer, der sein Leben nicht im Griff hat und immer weiter abgerutscht ist. Von Erbstreitigkeiten ist die Rede, seine Einlassungen im Internet zeugen von einem Menschen, der aus der Balance ist. Er ist ein Terrorist, weil er seinen Hass, sein eigenes Elend über unschuldige Menschen bringen wollte. Aber nach allem, was wir wissen, hat er weder einen islamistischen noch rechtsextremistischen noch linksextremistischen Hintergrund. Ob er angesichts seiner psychischen Auffälligkeit für seine Tat strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden kann, wird sich zeigen.

War Gefährlichkeit erkennbar?

Wie schützt sich eine Gesellschaft vor der Explosion eines solchen Menschen? Wie bewahrt sie sich davor, dass ein frustrierter Verlierer ein Auto zur Waffe macht – oder ein Messer, ein Beil, eine Spitzhacke? Die Antwort ist leider sehr einfach. Es gibt keinen Schutz vor solchen Wahnsinnstaten.

Wie in vielen anderen Fällen wird sicherlich auch in Trier untersucht werden, ob die Tat des 51-Jährigen vorherzusehen gewesen wäre. Man wird sich vergewissern, ob seine Gefährlichkeit erkennbar war. Alles andere wäre fahrlässig. Es ist die Pflicht des Staates, die Sicherheit seiner Bürger so gut wie möglich zu schützen. Aber es ändert nichts: Es wird nie und nirgendwo absolute Sicherheit vor politischem oder jedem anderen denkbaren Wahnsinn geben.

Diese Erkenntnis tut weh, sie macht uns traurig und lässt uns vorsichtig werden. Aber sie sollte uns nicht furchtsam machen. Würden wir uns zurückziehen, würden wir uns vor dem Umgang mit anderen Menschen verschließen, welcher Verlust wäre es für uns und für unsere Mitmenschen!

Kein Geheimnis aus der Krankheit machen

Ich finde, man kann beim Umgang mit der Angst sehr viel von den Aktiven der Selbsthilfeinitiative „Yeswecan!cer“ lernen. In ihr engagieren sich Krebspatienten und Angehörige, Mediziner und Prominente. Sie sprechen öffentlich über die Krankheit, sie geben einander Beistand. „Yeswecan!cer“ fordert – in dieser Woche beim digitalen Leserforum unserer Zeitung – einen mutigeren Umgang mit dem Krebs, sie wollen die Betroffenen aus der Stigmatisierung, der Isolierung und der Entmündigung im medizinischen Apparat befreien. Sie sehen der Lebensgefahr, die der Krebs bedeutet, mit großem Ernst und wunderbarem Lebensmut ins Auge.

Ihr Gründer Jörg A. Hoppe, einer der erfolgreichsten TV-Produzenten in Deutschland, sagte, dass er nur deshalb so viel Ermutigung, so viele positive „Vibes“ empfangen habe, weil er von Anfang an kein Geheimnis aus seiner Krankheit machte. Seine Mitstreiterin Alexandra von Korff lässt uns an ihrer Geschichte teilhaben, indem sie bloggt und Podcasts produziert. Es sind zwei besondere Menschen, ganz ohne Frage. Aber ist das, was sie fordern und tun, so ungewöhnlich? Man möchte meinen, dass der offene Umgang selbstverständlich wäre. Jeder Zweite, sagt Hoppe, hört im Laufe seines Lebens die Diagnose Krebs. Viele von uns schieben diese Krankheit aber so weit wie möglich von sich. Wir tun uns schwer, mit der Tatsache umzugehen, dass die Diagnose Krebs schon morgen Realität sein kann.

Offen über Furcht sprechen

Die amerikanische Schriftstellerin Dorothy Thompson schrieb: „Erst wenn wir uns nicht mehr fürchten, beginnen wir zu leben.“ Wie macht man das, fragen sich gerade die, denen die Angst am meisten zusetzt. Wie kann man sich nicht fürchten, wenn man doch weiß, dass Krebs das Leben bedroht – oder dass gerade in Trier ein Mensch willkürlich den Tod über unschuldige Passanten gebracht hat, so wie es in Braunschweig, Wolfsburg, Gifhorn jederzeit passieren könnte?

Die größte Hilfe besteht wohl in der Zuversicht, die wir einander gegenseitig geben können, indem wir offen über unsere Furcht sprechen, anderen die Chance geben, uns nah zu sein und uns so von der Furcht nicht beherrschen lassen. Wer Jörg A. Hoppe und Alexandra von Korff beim Leserforum erlebt hat, der wird sehen: Es lohnt sich, Mut zu haben.

Diesen und weitere Podcast unserer Zeitung finden Sie hier, bei Spotify, Apple Podcast und Co.