Berlin. Herdenimmunität? Fast alle Deutschen haben inzwischen Antikörper gegen Corona gebildet - was das jetzt für Herbst und Winter bedeutet.

Noch nie Kontakt mit Corona gehabt? Das gibt es nur noch in Ausnahmefällen. Zweieinhalb Jahre nach Beginn der Pandemie haben 95 Prozent der Bevölkerung Antikörper gegen das Virus – entweder durch Impfung oder durch eine überstandene Infektion. Das geht aus einer neuen Studie des Bundesforschungsministeriums hervor, deren erste Zwischenergebnisse am Donnerstag vorgestellt wurden. Was heißt das nun für die Pandemie?

Was wissen wir über die Immunität der Deutschen?

95 Prozent der Bevölkerung mit nachgewiesenen Antikörpern – das sei eine gute Nachricht, sagte Bundesforschungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) bei der Vorstellung in Berlin. „Demnach ist ein Großteil der Menschen in Deutschland im kommenden Herbst und Winter moderat bis gut gegen schwere Corona-Verläufe geschützt.“

Die Untersuchung zum Immunisierungsgrad in der Bevölkerung gegen SARS-CoV-2 („Immunbridge“) sei ein wesentlicher Beitrag zur Verbesserung der Corona-Datenlage. In der Vergangenheit hatte es massive Kritik gegeben, dass die Bundesregierung zu wenige Daten zur Immunität der Bevölkerung hatte. Grundlage der aktuellen Untersuchung sind Blutuntersuchungen und Befragungen zu Infektionen und Impfungen von mehr als 25.000 Teilnehmenden aus acht verschiedenen Einzelstudien.

Das Problem: Die Studie hat nur ein bestimmtes Spektrum der Antikörper gemessen – die individuelle Immunität aber setzt sich durch viele weitere Faktoren zusammen. Zudem räumten die beteiligten Wissenschaftler um Studienleiter Hendrik Streeck ein, dass manche Gruppen wie Impfskeptiker, sehr junge und sehr alte Menschen oder auch Geflüchtete aus der Ukraine nicht in ausreichender Zahl berücksichtigt werden konnten. Und: Man könne zwar sagen, dass mit der weiten Verbreitung von Antikörpern ein gewisser Schutz vor schwerer Erkrankung bestehe – aber man sehe deutlich an den aktuell steigenden Fallzahlen, dass der Schutz vor Infektionen in der Bevökerung insgesamt „sehr gering“ sei.

Hinzu kommt: In der Altersgruppe der Über-79-Jährigen und bei Risikopatienten haben laut Studie zu viele Menschen einen zu schwachen Immunschutz. Das gleiche gilt demnach auch für bestimmte Regionen: In Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz sei das Schutzniveau deutlicher höher als etwa in Thüringen. Das höchste Niveau habe Trier, das niedrigste Chemnitz. Eine Herdenimmunität in dem Sinne, dass das Virus nicht mehr weitergeben werde, „haben wir nicht“, bilanzierte Virologe Streeck. Er glaube auch nicht, dass das je erreicht werde. Die Daten zeigten vielmehr, „dass wir eine deutliche Immunitätslücke in den Risikogruppen haben und das Impfkampagnen bei über 70-Jährigen dringend notwendig sind“, mahnte Streeck.

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Was bedeutet das Ergebnis für den Kampf gegen die Pandemie?

Bundesforschungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP)
Bundesforschungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) © dpa | Wolfgang Kumm

FDP-Ministerin Stark-Watzinger deutete die Daten optimistisch: Man sei damit gut für Herbst und Winter vorbereitet. „Mit Blick auf den Entscheidungsspielraum der Länder heißt das: Sie müssen nur dann auf zusätzliche Schutzmaßnahmen nach dem Infektionsschutzgesetz zurückgreifen, falls sich eine neue, gefährlichere Variante durchsetzen sollte.“ Das sieht nicht nur ihr Kabinettskollege Karl Lauterbach, sondern auch Experten und Ärztevertreter mit Blick auf die anschwellende Herbstwelle gänzlich anders.

Inzidenz: Wie entwickeln sich die Fallzahlen?

Aktuell nähert sich die Corona-Inzidenz bereits wieder der 1000er-Marke: Das Robert Koch-Institut (RKI) gab die bundesweite Sieben-Tage-Inzidenz am Donnerstagmorgen mit 793,8 Corona-Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner an. Experten gehen aber von einer hohen Zahl nicht erfasster Fälle aus – vor allem weil viele Infizierten keinen PCR-Test mehr machen lassen und daher nicht erfasst werden.

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Corona-Maßnahmen: Kommen jetzt wieder strengere Regeln?

Konkret messbar ist die wachsende Belastung in den Kliniken. Angesichts der stark steigenden Zahl der Corona-Fälle bei Patienten und unter Klinik-Mitarbeitern fordern Ärztevertreter die Länder zu raschem Handeln auf: „Überall dort, wo die Inzidenzen jetzt durch die Decke gehen, müssen die Länder mit einer FFP2-Maskenpflicht im ÖPNV und in öffentlich zugänglichen Innenräumen reagieren“, sagte die Vorsitzende der Ärzte-Gewerkschaft Marburger Bund, Susanne Johna, unserer Redaktion. Das Infektionsgeschehen müsse eingedämmt werden, um die Krankenhäuser nicht zu überlasten.

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Lauterbach rief ebenfalls die Landesregierungen dazu auf, zur Maskenpflicht in Innenräumen zurückzukehren. „Die Welle, die sich aufbaut, die wird ja nicht allein enden. Da muss man reagieren.“ Bislang sind nur wenige Länder bereit, schärfere Maßnahmen einzuführen. So könnten in Berlin bald wieder eine Maskenpflicht in Läden, Museen und anderen öffentlichen Gebäuden gelten. Im Saarland mit der zuletzt bundesweit höchsten Sieben-Tage-Inzidenz setzte die Regierung dagegen zunächst auf einen Appell.

Corona: Wie ist die Lage in den Kliniken?

„Die Politik unterschätzt nach wie vor die personellen Engpässe in der Versorgung“, mahnte Ärztevertreterin Johna. „Wir wollen alle Patientinnen und Patienten gut versorgen, aber auch in den Krankenhäusern fällt immer mehr Personal erkrankt aus. Dadurch sehen wir auch in dieser Herbstwelle wieder massive Probleme auf viele Krankenhäuser zukommen.“

Die Belegung mit positiv getesteten Patienten sei auf den Normalstationen gegenüber der Vorwoche um die Hälfte gestiegen, auch auf den Intensivstationen gebe es wieder mehr Covid-19-Patenten, so Johna. Das Personal gehe jetzt schon wieder auf dem Zahnfleisch. Die Lage werde sich noch verschlechtern, wenn der Belegungsdruck durch viele Covid 19-Fälle weiter zunehme oder sich gar eine zusätzliche Grippewelle aufbaue.

Die Belastung der Kliniken wirke sich unmittelbar auf andere Patienten aus, etwa wenn wieder Operationen verschoben werden müssten, warnte Johna. „Schon jetzt sind viele Notaufnahmen überlastet, die Rettungsleitstellen haben in manchen Bundesländern Schwierigkeiten für Patienten in Rettungswagen freie Kapazitäten zu finden.“

Wie geht es beim Impfen weiter?

An diesem Freitag will Gesundheitsminister Lauterbach zusammen mit dem Paul-Ehrlich-Institut (PEI) eine neue Corona-Kampagne vorstellen. Ziel ist unter anderem die Impfquote weiter zu erhöhen. Die neuen Omikron-Impfstoffe haben bislang nicht zum erhofften geführt: Ärztevertreter beklagen, dass die Nachfrage schwach sei. Laut RKI haben sich bislang gut 28 Prozent der Über-60-Jährigen einen zweiten Booster spritzen lassen.

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.