Berlin. Eine App samt Hörprobe könnte genügen, um Corona und andere Krankheiten zu erkennen. Eine Revolution dank künstlicher Intelligenz?

Sprechen, husten, atmen – in Zukunft könnte eine Hörprobe ausreichen, um eine Corona-Infektion oder andere Krankheiten zu erkennen. Möglich machen soll dies der Einsatz künstlicher Intelligenz (KI) – in Kombination mit einer App fürs Smartphone.

Ein Forscherteam um Björn Schuller beschrieb erstmals die Möglichkeit, eine Infektion mit Sars-CoV-2 anhand der Stimme zu erkennen. Er ist Professor für künstliche Intelligenz in der Medizin an der Universität Augsburg und Professor für KI in Sprache und Musik am Imperial College in London. Sein Aufsatz erschien am 24. März 2020, wenige Wochen nach Ausbruch der Pandemie.

Corona-Infektion: Der Klang der Stimme verändert sich

Mittlerweile arbeiten neben Schuller Forscherinnen und Forscher weltweit an der Umsetzung der Idee – in Europa, den USA und Australien. Auch die Pharmaindustrie hat sich eingeschaltet. Das US-Unternehmen Pfizer investierte Medienberichten zufolge mehr als 100 Millionen Euro in eine Entwicklung der Universität von Queensland (Australien).

„Eine Atemwegserkrankung beeinflusst den Klang der Stimme“, sagt Schuller im Gespräch mit unserer Redaktion. Dies gelte nicht nur für Covid-19, sondern auch für Asthma oder COPD. Wer die Unterschiede genau detektieren könne, könne Infektionen und Erkrankungen erkennen. „Die Lerndatenlage muss dabei ausreichen, um sicherzustellen, dass wir nicht nur gesund versus Covid erkennen, sondern auch bei Nicht-Covid-Fällen hochvalidierte Krankheitsbilder mit modellieren“, so Schuller weiter.

Vielversprechende Ergebnisse für eine Corona-Test-App meldete ein Forscherkollektiv um Wafaa ­Aljbawi vom Institute of Data Science an der Uni Maastricht (Niederlande). „Einfache Sprachaufnahmen in Kombination mit einer fein abgestimmten KI haben das Potenzial, eine hohe Präzision bei der Erkennung von Corona zu erreichen“, sagte Aljbawi diese Woche auf dem Kongress der European Respiratory Society in Barcelona. Dies böte die Chance, schnell, einfach und kostengünstig zu testen.

Geräuschdatenbank der Uni Cambridge enthält fast 900 Hörproben

Für die Studie verwendeten Aljbawi und ihre Kollegen Daten aus der Covid-19-Sounds-App der Universität Cambridge (Großbritannien). Diese enthält fast 900 Hörproben von 4352 gesunden und nicht gesunden Menschen, von denen 308 positiv auf Covid-19 getestet wurden.

Eine App könnte die Antigenschnelltests bald ergänzen. Forscher weltweit arbeiten daran.
Eine App könnte die Antigenschnelltests bald ergänzen. Forscher weltweit arbeiten daran. © dpa | Sebastian Gollnow

Die Forscher entwickelten eine App und installierten sie auf dem Handy der Probanden. Nach Angabe von Geschlecht, Alter, Krankengeschichte oder Raucherstatus zeichneten sie Atemgeräusche auf. Dazu gehörten ein dreimaliges Husten, drei bis fünf tiefe Atemzüge durch den Mund sowie das Vorlesen eines kurzen Satzes.

Für die Auswertung verwendeten die Forscher eine Spektrogrammanalyse. „Auf diese Weise können wir die vielen Eigenschaften der Stimmen der Teilnehmer zerlegen“, sagte Aljbawi. Um die Stimme von Covid-19-Patienten von Gesunden zu unterscheiden, wurde dann ein KI-Modell namens Long Short-Term Memory (LSTM) eingesetzt, das auf neuronalen Netzwerken basiert.

App muss sicher sein – technische Umsetzung sehr aufwendig

Die Gesamtgenauigkeit des Tests betrug Aljbawi zufolge 89 Prozent, die Spezifität 83 Prozent. „Nach Anwendung des LSTM-Modells haben wir elf von 100 Infektionen verpasst“, erklärte die Wissenschaftlerin. Gleichzeitig hätten 17 von 100 Personen ein falsch positives Ergebnis bekommen. Im Vergleich mit der Zuverlässigkeit vieler zugelassener Antigentests sei es ein gutes Ergebnis. Es brauche weitere Forschung, um die App zur Marktreife zu bringen und die Datenlage zu verbessern.

Björn Schuller teilt diese Einschätzung. Die technische Umsetzung sei weit fortgeschritten, aber noch nicht abgeschlossen. „Die App muss unabhängig vom Betriebssystem laufen und sicher sein“, sagt er. Dies umzusetzen, sei sehr aufwendig und gehe über den wissenschaftlichen Nachweis der Machbarkeit hinaus.

„In einem realen Einsatzszenario werden Nutzer etwa auch versuchen, ein positives Ergebnis zu erzielen, obwohl sie negativ sind. Wir kennen das von den Schnelltests, die dafür etwa in Orangensaft gesteckt wurden. Hier fehlt noch die Absicherung in der Datenlage“, erklärt der Wissenschaftler weiter. Dies gelte auch für gezielte Angriffe mittels Zuspielung eines Rauschens, um ein positives Ergebnis in ein negatives umzuwandeln. „Diese sogenannten Adversarial Attacks kennen wir von der Bildverarbeitung, es gibt sie aber auch im Audiobereich“, sagt Schuller.

Konzept könnte auch bei Depressionen oder Alzheimer funktionieren

Der Wissenschaftler glaubt fest daran, dass Audioanalysen sinnvolle Lösungen für Covid-19, für andere Atemwegserkrankungen, aber auch für Depressionen, Parkinson oder Alzheimer liefern werden. „Es ist eine Frage der Umsetzung. Dies ist sicher in einem Jahr technisch und praktisch möglich. Realistisch aber rechne ich mit marktreifen Apps in etwa fünf bis zehn Jahren.“

Insgesamt sei der Optimismus groß, „dass KI eine Revolution in der früheren Diagnose von Krankheiten leisten kann“. so Schuller. Sie könne Patientinnen und Patienten integrieren, klinisches Personal besser informieren sowie jederzeit, überall und günstig zugänglich sein. Er sagt: „Unsere Vision ist aber nicht, klinisches Personal zu ersetzen, sondern Werkzeuge bereitzustellen, um eine klinische Entscheidung zu unterstützen.“

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.