Angesichts eskalierender Infektionszahlen werden die Rufe nach verpflichtenden Impfungen lauter. Was dafür spricht und was dagegen.

Die Warnungen aus den Krankenhäusern klingen zunehmend verzweifelt: „Die Lage ist sehr besorgniserregend und momentan nicht unter Kontrolle“, sagte der Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi), Gernot Marx, am Montag. Auf den Intensivstationen in Deutschland würden nun mehr als 3670 Corona-Patienten um ihr Leben kämpfen, umsorgt von erschöpftem Personal.

Angesichts der Lage diskutiert Deutschland nun eine Maßnahme, die vor Monaten noch ausgeschlossen schien: die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht.

Kommt die allgemeine Impfpflicht?

Die geschäftsführende Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte sie ausgeschlossen, ihr ebenso geschäftsführender Gesundheitsminister Jens Spahn auch. Eine Impfpflicht sollte es hierzulande nicht geben. Doch nach diesem Wochenende ist die Debatte in vollem Gang.

Zwar wolle niemand eine allgemeine Impfpflicht, sagte RKI-Chef Lothar Wieler am Sonntagabend. „Aber wenn man alles andere versucht hat, dann sagt auch die WHO, dass man über eine Impfpflicht nachdenken muss.“ Mehrere Verbände hatten zuletzt eine solche Regelung gefordert.

Was spricht für eine Impfpflicht?

Aus Sicht von Expertinnen und Experten: die dramatische Entwicklung des Infektionsgeschehens – und die Sorge, dass sich diese in jedem Herbst wiederholen könnte, wenn die Impfquote nicht steigt. „Niemand will im nächsten Herbst wieder an dieser Stelle stehen“, sagte Thorsten Lehr, Corona-Modellierer der Universität des Saarlandes, auf Anfrage. Eine Impfpflicht sei ein Weg, das zu verhindern.

Schlange stehen für die Impfung in Österreich: Wird die Spritze auch in Deutschland zur Pflicht?
Schlange stehen für die Impfung in Österreich: Wird die Spritze auch in Deutschland zur Pflicht? © AFP via Getty Images | JOE KLAMAR

Ähnlich sieht das Lehrerpräsident Heinz-Peter Meidinger: Ohne steigende Impfquote werde man kaum um eine Pflicht herumkommen, um aus dem „Teufelskreis“ von Lockerungen und Lockdowns auszubrechen, sagte er. Auch wenn flächendeckende Schulschließungen nicht mehr möglich seien, bleibe die Frage, was künftig in Regionen passiere, in denen die Lage aus dem Ruder läuft. „Eine allgemeine Impfpflicht würde es deutlich erleichtern, den Schulbetrieb dauerhaft aufrechtzuerhalten“, sagte er unserer Redaktion.

Auch in der Politik mehren sich die Stimmen, die eine Pflicht nicht mehr ausschließen. Die CSU-Spitze sprach sich am Montag klar für eine allgemeine Impfpflicht gegen Corona aus.

Was spricht gegen eine Impfpflicht?

Um die aktuell eskalierende vierte Welle zu brechen, käme eine allgemeine Impfpflicht auf jeden Fall zu spät, das betonte Spahn am Montag. In seiner Partei gibt es zudem Bedenken, was die rechtliche Umsetzbarkeit angeht: Der stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion im Bundestag, Thorsten Frei, sagte der „Welt“, eine allgemeine Impfpflicht dürfte unter den derzeitigen Rahmenbedingungen „unverhältnismäßig und damit verfassungswidrig sein“. Ähnliches war aus der FDP zu hören.

Ist eine Impfpflicht rechtlich möglich?

Ja, sagt Verfassungsrechtler Alexander Thiele von der Universität Göttingen. „Eine Impfpflicht wäre eine Beschränkung des Rechts auf körperliche Unversehrtheit“, sagte Thiele. „Das ist möglich, wenn andere, überragende Rechtsgüter diesen Eingriff aufwiegen.“ Und das scheine durch die Pandemie zunehmend der Fall zu sein.

Wie könnte eine Impfpflicht umgesetzt werden?

Für eine allgemeine Impfpflicht müsste das Infektionsschutzgesetz geändert werden, sagt Staatsrechtler Thiele. „Welche Konsequenzen eine Verweigerung dann hat, ist eine politische Entscheidung“, erklärt er. Die Möglichkeiten des Staates würden bei einem Ordnungsgeld beginnen, aber auch Freiheitsstrafen oder sogar die Zwangsimpfung seien denkbar. Eine Impfpflicht könne keinen Impfzwang bedeuten, sagte dagegen der Bochumer Verfassungsrechtler Stefan Huster.

Wie die Pflicht im Ernstfall umgesetzt werden würde und wer sie kontrollieren soll, hängt von der gesetzlichen Ausgestaltung ab.

Gab es in Deutschland schon einmal eine Impfpflicht?

Ja, die Pockenimpfung war seit dem 19. Jahrhundert eine Pflichtimpfung in ganz Deutschland und blieb es auch nach der Teilung Deutschlands 1945. In der DDR gab es eine gesetzliche Impfpflicht gegen sehr viele Krankheiten, unter anderem Pocken und Tuberkulose.

In der Bundesrepublik galt die Pflicht zur Pockenimpfung weiter, sie wurde erst in den 70er-Jahren schrittweise aufgehoben und 1983 endgültig abgeschafft. Grundsätzlich setzte die Bundesrepublik auf Aufklärung, nicht auf Vorschriften.

Wo gibt es bereits eine generelle Impfpflicht gegen Covid-19?

Österreich ist das erste Land in der EU, das die Impfpflicht zum 1. Februar 2022 einführt. Wie sie exekutiert werden soll, ist aber noch unklar. Die meisten Länder wie Frankreich oder Italien haben es bisher bei einer Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen belassen.

Nur das kleinste Land in Europa hat bereits alle Einwohner in die Pflicht genommen: der Vatikanstaat. Seit 8. Februar 2021 gilt der Erlass. (mit cho)