Ahrweiler/Berlin. Behörden warnten schon Stunden vor der Flutwelle. Doch erst kurz vor Mitternacht rief der zuständige Landrat den Katastrophenfall aus.

Edith W. hat Thai Curry vorbereitet, eine Freundin kommt zu Besuch. Am frühen Abend des 14. Juli macht sich W. keine großen Sorgen. Gegen 18 Uhr, so erzählt sie einige Tage danach vor ihrem Haus, habe sich der Mann der Freundin noch gemeldet: „Es ist Hochwasser vorhergesagt.“

Edith W. geht vor die Tür, es sind nur ein paar Meter auf die kleine Brücke über den Fluss Ahr. Das einstige Haus der Eltern von W. liegt direkt am Ufer, nur eine schmale Promenade dazwischen, hier im kleinen Ort Walporzheim im Kreis Ahrweiler.

Die Insel im Flussbett sei noch zu sehen gewesen, als die ersten Warnungen von Bekannten einliefen, sagt Edith W. Videos, die W. mit ihrem Handy aufgenommen hat, zeigen die grünen Pflanzen, den Kies inmitten der Ahr. Werde schon nicht so schlimm, habe Edith W. noch gedacht. Und: Sie und ihre Freundin wollen erstmal das Thai Curry essen.

Ahrweiler: Mehr als 130 Hochwasser-Tote

Wenige Stunden später sind allein im Kreis Ahrweiler, dort, wo auch die 60 Jahre alte Edith W. ihr Haus hat, mehr als 130 Menschen tot. Gut zwei Wochen nach der Flutkatastrophe werden in Rheinland-Pfalz, das am stärksten von dem Hochwasser betroffen ist, sind noch immer fast 60 Menschen vermisst. „Das Haus hat gebebt“, sagt Edith W. heute.

Eine der zentralen Fragen: Wurden Menschen wie Edith W. nicht ausreichend gewarnt? Per Gesetz ist die Kommune, also der Landrat und die Kreisverwaltung, für den Katastrophenschutz zuständig. Mehrere Medien berichten, dass das Landesamt für Umwelt die Kreisverwaltung von Ahrweiler mehrmals im Vorfeld der Flut vor extremen Pegeln gewarnt habe.

Die rheinland-pfälzische Bildungsministerin Stefanie Hubig (SPD) und Landrat Jürgen Pföhler (CDU, M) im Gespräch mit dem  Schulleiter einer vom Hochwasser betroffenen Realschule in Ahrweiler.
Die rheinland-pfälzische Bildungsministerin Stefanie Hubig (SPD) und Landrat Jürgen Pföhler (CDU, M) im Gespräch mit dem Schulleiter einer vom Hochwasser betroffenen Realschule in Ahrweiler. © dpa | Thomas Frey

Am Nachmittag des 14. Juli sind demnach Meldungen durch das Landesamt veröffentlicht worden, wonach der bisherige Pegelrekord von 3,7 Meter „deutlich überschritten“ werden sollte. Gegen 15.30 Uhr prognostizierte die Behörde einen Wasserstand von fünf Metern, um halb neun Uhr abends dann sogar: knapp sieben Meter, fast doppelt so hoch wie das Rekordhochwasser 2016.

Landrat rief Katastrophenfall fast drei Stunden später aus

Doch der im Internet noch immer zugängliche Lagebericht der Kreisverwaltung Ahrweiler zeigt, dass der Katastrophenfall erst fast drei Stunden später ausgerufen wird: „Landrat Dr. Jürgen Pföhler hat Alarmstufe 5 und damit den Katastrophenfall ausgerufen.“ Stand der Mitteilung: 23.15 Uhr.

Zu der Zeit wurden laut Landrat „alle Gebäude im Umkreis von 50 Metern rechts und links der Ahr evakuiert“ und Notunterkünfte eingerichtet. Zu diesem Zeitpunkt sind jedoch Häuser schon durchspült, Pegelmessstationen weggerissen.

Über das Internet wendet sich Landrat Pföhler nun mit einem eindringlichen Appell an die Menschen: „Bitte bleiben Sie, wenn möglich, zu Hause und begeben Sie sich gegebenenfalls in höher gelegene Stockwerke. Vermeiden Sie unnötige Fahrten mit dem Auto. Die Lage ist sehr ernst. Es besteht Lebensgefahr!“ Nur: Das Internet funktioniert in vielen Orten nicht mehr. Fraglich, wer diese Meldung kurz vor Mitternacht noch liest.

Krisenforscher: Schwere Vorwürfe gegen Landrat

Der Krisenforscher Frank Roselieb erhob in „Rhein-Zeitung“ schwere Vorwürfe gegen CDU-Politiker Pföhler. Dass die Kreisverwaltung keinen „Voralarm“ ausgelöst habe, sei für ihn „unerklärlich“. Dies hätte „frühzeitige Notmaßnahmen“ ermöglicht.

Die Kreisverwaltung wollte sich am Sonntag gegenüber unserer Redaktion nicht zu den Vorwürfen äußern. Die Pressestelle schrieb nur: „Selbstverständlich werden wir Ihre Fragen zum Abend des 14. Juli beantworten. Wir sind derzeit aber noch immer dabei, die Katastrophenlage zu bewältigen.“ Priorität habe „die Versorgung der Menschen im Flutgebiet“. Hieran würden alle Beteiligten „rund um die Uhr“ arbeiten.

Krisenmanagement: Welche Rolle spielte Innenminister Lewentz?

Noch in der Nacht der Flut ruft der Landrat die Bundeswehr zur Hilfe. Auch der Innenminister von Rheinland-Pfalz, Roger Lewentz (SPD), ist am Abend nach Angaben der Kreisverwaltung im Krisengebiet in Ahrweiler. Auch Lewentz sitzt in den Stunden der Katastrophe im Krisenstab der Kreisverwaltung.

Unklar ist, ob der Innenminister die Lage anders eingeschätzt hat. Auf Nachfrage schreibt das Ministerium: „Am 14. Juli 2021 galt im Landkreis Ahrweiler ab Vormittag die Warnstufe 4, später die Warnstufe 5.“ Verantwortung für das Krisenmanagement trage die Kreisverwaltung.

Minister Lewentz sagt zu dieser Nacht: „Ich habe bei meinem Besuch einen ruhig und konzentriert arbeitenden Krisenstab erlebt. Man sagte mir, dass alle erforderlichen Vorkehrungen getroffen worden sind. Ich habe mich dann zurückgezogen, um erreichbar zu bleiben.“ Denn auch andere Landkreise in Rheinland-Pfalz seien von dem Hochwasser zu der Zeit betroffen gewesen.

Anwohnerin: „Da hätten bei mir die Alarmglocken läuten sollen“

Auch diese Informationen zeigen: Die Wucht des Wassers war früh vorhersehbar – doch die Folgen für die Menschen vor Ort kaum selbst einzuschätzen. Das zeigt auch die Erfahrung von Edith W. Sie zeigt Videos und Fotos, die sie mit ihrem Handy gefilmt hat.

Eine Behelfsbrücke in Bad Neuenahr ersetzt die von der Flut zerstörte Markgrafenbrücke. Ein Stück Normalität in dem Katastrophengebiet.
Eine Behelfsbrücke in Bad Neuenahr ersetzt die von der Flut zerstörte Markgrafenbrücke. Ein Stück Normalität in dem Katastrophengebiet. © dpa | Thomas Frey

Um kurz nach 20 Uhr abends habe es im Ort Walporzheim eine Durchsage der Feuerwehr gegeben, sagt Anwohnerin W. „Bleiben Sie zuhause“, habe es geheißen. Bis heute ist klar: Nicht alle Menschen haben die Warnung der Feuerwehr gehört, nicht in allen Orten heulten in dieser Nacht die Sirenen. Nicht alle Menschen bekamen warnende Nachrichten auf ihr Handy.

Edith W. geht immer wieder auf die Brücke vor ihrem Haus, schaut auf den Fluss. Ein Video auf ihrem Handy zeigt, dass die Promenade schon um halb zehn abends unter Wasser steht. Da habe einer gesagt: „Oben in Altenahr ist ein Hotel weggespült. Da hätten bei mir die Alarmglocken läuten sollen. Haben sie aber nicht.“ Wie Edith W. geht es vielen Menschen im Ahrtal: Sie erkennen die Gefahr nicht.

Auch Häuser weit weg vom Ahr-Ufer stehen unter Wasser

Und auch das Landesamt für Umwelt gibt an dem Abend nicht nur Alarmsignale aus. Zwischenzeitlich ist nach einem Bericht der „Frankfurter Allgemeinen“ der Pegelstand von fünf auf gut vier Meter nach unten korrigiert worden. Kurz danach allerdings kommt die erneute Korrektur: Pegelstand liegt bei mehr als fünf Metern. Da ist es kurz nach halb acht.

Doch auch die Fachleute vom Landesamt sagen das Ausmaß der Katastrophe nicht präzise vorher. Denn: Später soll der Wasserstand in einigen Orten im Ahrtal mehr als acht Meter über Normalpegel betragen haben. Häuser, die selbst noch 100 Meter vom Ufer entfernt stehen, werden bis unter den Balkon überspült. Die Flut übersteigt alle Prognosen.

Edith W. steht in den Tagen nach der Flut vor dem, was sie „die Apokalypse“ nennt. Der Schlamm klebt noch immer auf den Steinplatten in ihrem Garten, bis fast zum Balkon stand das Wasser der Ahr, in der Garage stapeln sich Trümmer, das Nachbarhaus muss sogar abgerissen werden.

Der Feigenbaum aus dem Jordantal steht noch im Garten

Anfangs fand Edith W. kaum Worte. Noch immer stehen ihr Tränen in den Augen, wenn sie über die Nacht spricht. Dann aber fasst sie sich, ist berührt von der Hilfe, die aus ganz Deutschland kommt. Und die Nachbarschaft sei „ein Super-Haufen“. Sogar ihre Feriengäste würden sie anrufen, fragen, wie es geht.

Wenn Edith W. zwischen Schutt und Schlamm im Ahrtal etwas Mut und Kraft tanken will, dann geht sie an den kleinen Feigenbaum neben ihrer Auffahrt. Sie habe vor vielen Jahren von einer Pilgerfahrt an die Jordanquelle drei Äste eines umgekippten Feigenbaums mitgebracht. Und in ihren Garten gepflanzt. Vieles hat die Flut weggespült, ganze Mauerteile, Brücken und Straßen in dem Ort. Der Feigenbaum aber steht noch.