Hamburg. Früher schauten die Deutschen in ihrer Freizeit gern mal aus dem Fenster oder saßen vor dem Fernseher. Heute bestimmen Handy und Internet fast jede freie Minute. Dabei wünschen sich die Menschen eigentlich etwas ganz anderes, sagt der neue “Freizeit-Monitor“.

Im Corona-Jahr 2020 sehnen sich die Deutschen laut einer neuen Umfrage nach einer weniger von Medien bestimmten Freizeit.

Drei Viertel der Befragten würden gerne spontan das tun, wozu sie gerade Lust haben (77 Prozent), und sich mehr in der Natur aufhalten (75 Prozent), ergab eine repräsentative Studie für den "Freizeit-Monitor 2020" der Hamburger BAT-Stiftung für Zukunftsfragen. Auf Platz drei der Wunschliste steht "etwas für seine Gesundheit tun", dann folgen Tagesausflüge und Unternehmungen mit Freunden außer Haus.

Ihn habe überrascht, dass der größte Wunsch der nach mehr Spontanität sei, sagte der Leiter der Stiftung, Prof. Ulrich Reinhardt, am Donnerstag bei der Vorstellung der Studie. Eigentlich habe es selten so viele Möglichkeiten der Freizeitgestaltung gegeben. "Andererseits ist das natürlich auch verständlich. Spontanität umfasst viele Dinge, die man derzeit einfach nicht ausüben kann. Der spontane Theaterbesuch, der spontane Kinobesuch war über viele Wochen oder gar Monate kaum möglich."

Dominiert wird die Freizeit der Menschen in Deutschland von medialen Aktivitäten. Nach dem Feierabend ziehen die Bundesbürger inzwischen das Internet dem Fernseher vor. "Erstmals in diesem Jahr konnte das Internet den Spitzenplatz erobern und das Fernsehen recht deutlich hinter sich lassen", sagte Reinhardt mit Blick auf die seit 1986 jährlich durchgeführte Umfrage. 96 Prozent der Befragten gaben an, mindestens einmal pro Woche das World Wide Web für Informationen, Spiele und Unterhaltung zu nutzen.

Nur 86 Prozent sitzen dagegen wenigstens einmal alle sieben Tage vor dem Fernseher. Ulrich betonte jedoch, es werde weiterhin viel ferngesehen, nur die Plattform habe sich geändert. Filme und Serien zu streamen, sei jetzt quer durch alle Altersgruppen üblich.

Das Internet verdrängt ein weiteres klassisches Medium. Erstmals telefonierten die Deutschen in ihrer Freizeit weniger, sowohl über das Festnetz als auch über das Handy. Ulrich erklärte das mit den alternativen Kommunikationsformen wie Chat und E-Mail. Deutlich seltener als noch vor fünf Jahren griffen die Bürger zu Zeitungen und Zeitschriften (-28 Prozentpunkte) oder widmeten sich in Ruhe ihrer Körperpflege (-24). Erwartungsgemäß gaben auch weniger Befragte an, in Bars und Kneipen zu gehen oder Sportveranstaltungen und Gottesdienste zu besuchen. "Ob sich dies nach Corona in allen Bereichen wieder ändert, das bleibt abzuwarten", sagte Reinhardt. Vielleicht gebe es auch grundlegende Veränderungen.

Die Pandemie habe aber auch das soziale Miteinander und die Aktivitäten in der Familie intensiviert, hieß es. Die Bürger unternehmen demnach mehr Tagesausflüge, gehen öfter campen und beschäftigen sich häufiger mit Karten- und Gesellschaftsspielen. Sogar zu weniger beliebten Tätigkeiten ringen sich offenbar viele durch: Die Hälfte der Befragten (50 Prozent) behauptete von sich, sie erledigten in Coronazeiten lange aufgeschobene Dinge - von der Steuererklärung bis zur Durchsicht ihrer Versicherungsunterlagen.

Die Mediendominanz hat einige Freizeitaktivitäten außer Mode kommen lassen, die vor einigen Jahrzehnten noch zu den Top Ten gehörten. "Aus dem Fenster sehen - das war in den 50er Jahren eine der beliebtesten Freizeitaktivitäten", sagte Reinhardt. Vor der Verbreitung des Fernsehens stand das Zeitunglesen an der Spitze. Wichtig waren auch die Gartenarbeit und das Ausschlafen. Über die heutigen Gewohnheiten sagte der Professor: "Die Bundesbürger nehmen sich weniger Zeit für erholsame Tätigkeiten." Eine Erklärung dafür sei: "Die Arbeit ist heute nicht mehr ganz so anstrengend wie noch in den vergangenen Jahren."

Ost- und Westdeutsche haben sich laut Freizeit-Monitor in ihren Aktivitäten insgesamt stark angeglichen. Dennoch gibt es weiterhin Unterschiede: 40 Prozent der Ostdeutschen gärtnern, im Westen machen das nur 32 Prozent der Befragten. Westdeutsche machten dafür mehr Spontanes und redeten häufiger mit ihren Nachbarn, sagte Reinhardt.

Erstaunlich findet der Forscher die Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit in der Freizeitgestaltung. Auf der einen Seite wollten die Menschen möglichst viele Wahlmöglichkeiten haben und das tun, was ihnen gefalle. Freizeit definiere sich gerade über diese Freiwilligkeit. Doch vielen Bürgern gelinge das nicht. Sie seien auch nach Feierabend Getriebene. "Wir versuchen zunehmend, unsere Freizeit zu optimieren, überall dabei zu sein, ja nichts zu verpassen, springen von Highlight zu Highlight", konstatierte Reinhardt. Die Intensivierung der Aktivitäten führe dazu, dass viele Menschen es nicht schafften, das zu tun, was sie eigentlich wollten.

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