Berlin. Viele Eltern erfüllen ihren Kindern nahezu jeden Wunsch – und das sofort. Forscher warnen: So geht der Gemeinschaftssinn verloren.

  • Wie entwickelt sich ein Kind, dass immer prompt alle Wünsche erfüllt bekommt?
  • Forscher warnen: Zu gönnerhafte Eltern beeinflussen den Gemeinschaftssinn ihrer Kinder negativ
  • Das könne auch negative Folgen für ganze Gesellschaften haben
  • Ob ein Erwachsener zu einem mitfühlenden Teil der Gesellschaft wird, liegt übrigens Forschern zufolge an den Genen

Anne-Marie ist vier Jahre alt und äußerst klug. Wenn sie anfängt, ihren Mund nur leicht zu verziehen, weiß sie genau: Ihre Eltern werden ihr jeden Wunsch erfüllen. Sie will ein Eis, sie will eine Limo, eine pink farbene Prinzessinnen-Jacke. Und nicht mehr lange, dann will sie auch ein iPhone. Und wenn sie es nicht kriegt: Dann wird geschrien, gestampft, getobt und Türen geschmissen.

Die Gefahr, wenn Wünsche sofort erfüllt werden

Welche Mutter, welcher Vater handelt da nicht lieber früher und erledigt das mit den Wünschen am besten sofort. Hier ein Kleidchen, dort ein Computerspiel, ein paar Ohrringe oder gleich einen Ponyhof. Hauptsache, die Kinder sind nicht gefrustet. Ihr Wille ist groß und die Gefahr auch: Der Weg in die Ego-Gesellschaft nimmt seinen Lauf, wenn die Kinder ihre Wünsche ständig durchsetzen, sagen Experten.

Jedes zehnte Paar ungewollt kinderlos

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    Verwöhnte Kinder, das ist schon schlimm genug. Doch es kommt noch schlimmer. Kinder, die es gewohnt sind, dass man ihre Wünsche am besten sofort erfüllt, haben als Heranwachsende eine schlechte Prognose: „Ein Drittel aller Jugendlichen hat keinen Gemeinschaftssinn“, so Professor Holger Ziegler von der Universität Bielefeld. Egoisten fehle das Einfühlungsvermögen. Hurra, es lebe die Generation Rücksichtslos.

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    Egomanen schaden der Gesellschaft

    Dass Kinder zu allererst an sich denken, sei durchaus normal. Forscher verweisen gerne auf die Evolution, eine Überlebensstrategie, damit die Kleinen nicht unter die Räder kommen. Dass aber Teilen wichtig ist, diese Lehre hat der Nachwuchs in grauer Vorzeit sozusagen mit der Muttermilch aufgesogen: Essen war knapp. Es musste für alle reichen.

    In Zeiten des Überflusses jedoch fällt dieser Regulierungsmechanismus weg. Das Ich wird zum Zentrum, das Wir ist nur dann eine nette Einrichtung, wenn es dem Ich hilft. Aber Egoismus schadet der Gesellschaft.

    Sonderbehandlung und Selbstverliebtheit

    Viele Eltern halten ihre Kinder für „Gottes Geschenk an die Menschheit“ – und ziehen so kleine Egomonster auf, so Sozialforscher Eddie Brummelman von der Universität Amsterdam. Diese Kinder fühlten sich anderen überlegen und erwarten eine Sonderbehandlung. Eine Art Nebenwirkung der elterlichen Zuwendung in Hochpotenz: Die Kinder würden auf die Dauer krankhaft selbstverliebt, so Brummelman.

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      Und setzen ihre Eltern immer mehr unter Druck: Handy, Playstation, Markenklamotten – Wünsche müssen erfüllt werden, am besten sofort. Sonst fliegen Türen. Oder der Nachwuchs schmollt. Eltern fühlten sich schnell machtlos. Schlecht für den Alltag. Schließlich will ja jeder, dass der Laden läuft. Und bevor man wegen eines tobenden Kindes seine Termine absagt, gibt man eben schon mal nach: Okay, Mama kauft der kleinen Lina ein neues Smartphone und eben kein gebrauchtes.

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      Mädchen können sich besser einfühlen als Jungen

      Eltern tun das alles ja oft im guten Glauben: Eine glückliche Kindheit ist doch wichtig als Rüstzeug für die Aufgaben im späteren Leben. Und es ist nun mal so: Die meisten Kinder wünschen sich lieber ein Tablet als eine Stunde Klettern. Die Wünsche umzuleiten, das nennt man Erziehung, so Wissenschaftler. Wobei man in Studien herausgefunden hat, dass für diese Herkulesaufgabe im Alltag oft einfach kein Platz ist.

      Ob ein Erwachsener zu einem mitfühlenden Teil der Gesellschaft wird, liege übrigens an den Genen – und zwar an den X- und Y-Chromosomen. Während Jungs sich zu wahren Ego-Shootern entwickeln könnten, zeigten Mädchen mitfühlende Tendenzen, so eine Studie an der Universität Bielefeld.

      Wer also der kleinen Lina all ihre materiellen Wünsche erfüllt, muss nicht so sehr bangen: Denn die große Lina wird trotzdem ein empathischer Mensch. Jedenfalls statistisch. Mädchen weisen deutlich mehr Sinn fürs Soziale auf, so der Sozialpädagoge Holger Ziegler.

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      Je älter die Jungen, desto weniger empathiefähig

      Getestet hatte man das Empathie-Verhalten in einer Studie an der Universität Bielefeld mit einem Fragenkatalog. Kinder sollten sagen, was sie von folgenden Aussagen halten: „Es macht mich traurig, wenn es anderen Kindern schlecht geht“ oder „Wenn ein anderes Kind traurig ist, versuche ich, es zu trösten“. Ein Fünftel der befragten Kinder (21 Prozent) zeigte hier nur ein geringes Empathievermögen.

      • Auffällig ist, dass die Jungen im Vergleich zu den Mädchen deutlich schlechter abschneiden (30 Prozent zu 12 Prozent).
      • Allerdings, auch das gibt die Studie ja her, so Ziegler, zeigten doch auch sehr viele Kinder starke Empathie.
      • Aber auch beim starken Mitgefühl lagen die Mädchen klar vorne: 61 Prozent der Mädchen und nur 37 Prozent der Jungen zeigten überdurchschnittliches Mitgefühl.

      Auch bei den Jugendlichen setzt sich das Bild fort: Über die Hälfte (54 Prozent) reagieren auf Aussagen wie: „Es nimmt mich mit, wenn ich sehe, dass ein Tier verletzt wird“ oder: „Es macht mich traurig, ein Mädchen/einen Jungen zu sehen, das/der niemanden zum Spielen findet“.

      Zwei von drei Mädchen (69 Prozent) – aber nur einer von vier Jungen (24 Prozent) – verfügen hier über starkes Mitgefühl. „Über die gesamten Altersklassen von 6 bis 16 Jahren zeigen sich in der Tendenz bei den Mädchen stetig steigende, bei den Jungen stetig sinkende Empathiewerte“, so Ziegler.

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      Ego-Kinder tun sich im späteren Leben schwer

      Na und? Könnte man doch mal sagen. Wächst sich doch alles raus irgendwann. So ein Denken sei gewagt, sagt Ziegler. Wer sich nicht einfühlt, entwickele auch keine innere Flexibilität – und die sei in unserer Gesellschaft, die von ständigen Umbrüchen geprägt ist, von großer Bedeutung.

      Ob Klimawandel, Flüchtlingskrisen, politische Brennpunkte – das Leben werde immer komplizierter. Kinder, die nicht gelernt haben, sich für andere zu interessieren, werden die Komplexität nicht begreifen und sich nicht zu reifen Persönlichkeiten entwickeln können.

      Ziegler spricht von einem Phänomen der „Entsolidarisierung“, das keinesfalls nur Randgruppen betreffe. Um die Fähigkeiten zu entwickeln, sich in der komplexen Struktur einer Demokratie zurechtzufinden oder sogar einzubringen, sei es nötig, dass Kinder von Anfang an lernten, dass nicht nur ihre Wünsche zählen.

      Was tun – von der Kunst, Grenzen zu setzen

      So klein kariert es klingen mag – aber Grenzen setzen fange im Kleinen an. Bei Ordnung und akzeptablem Verhalten. Doch wie kriegt man das hin? Zum Beispiel das Thema Aufräumen. Wie sag ich es meinem Kind, dass es seine Jeans und Jacken nicht einfach auf die Erde wirf? Meist hören die Kinder Sprüche wie diese: „Häng bitte die Klamotten auf.“ Schön ins Leere gesprochen.

      Wenn Eltern nicht verfolgten, was passiert, passiere meist gar nichts. Experten raten hier: Stehenbleiben, bis die Aufgabe erledigt ist. Das Gute: Das Feedback (Lob oder Tadel) kann sofort erfolgen. Klingt gut, aber: Wer hat heute in dem voll gepackten Alltag noch Zeit für eine so ausgeprägte Kontrolle.

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      Klar sagen, was man will – und ein gutes Vorbild sein

      Klare Anweisungen wie „Setz dich bitte hin“ seien immer besser als nur wage Hinweise wie „Hampel nicht so rum“. „Iss bitte mit dem Löffel, statt mit den Händen.“ Je konkreter die Aufforderungen sind, desto besser, so Erziehungsexperten. Doch viele Eltern sind nun mal keine Generäle, die gern auf so eine schurigelnde Weise den Ton angeben. Sie wollen ein freundschaftliches, liebevolles Miteinander. Verständlich sei das. Aber nicht immer wirklich hilfreich. Um ein klares „Nein“ komme keiner drumherum, da sind sich die Erziehungs-Ratgeber mehr als einig. Und auch darin: Eltern sollten ein gutes Vorbild sein.