Seevetal. Ralf Struckhof lebt mit einem Spenderorgan. Er erzählt seine Geschichte, weil er Menschen die Zweifel an der Organspende nehmen will.

An dem Tag, auf den er acht Monate gewartet hat, wacht Ralf Struckhof früh auf. Jemand ist in seinem Zimmer. Er hat kaum geschlafen, sein Herzmonitor hat ständig Fehlalarme ausgelöst. Und gestern ist ein Mitpatient gestorben. Der dritte, seit er hier ist. Es war eine Nacht voller schwarzer Gedanken, er will seine Ruhe. Deshalb hört er kaum hin, als der Arzt spricht. „Ihr Herz ist da.“ Lass mich doch zufrieden, denkt er. Dann merkt er, dass die Schwester weint. Und begreift, was sie sagt: „Das stimmt! Wir haben Ihr Herz!“

Als er sechs Stunden später zum OP gefahren wird, steht die ganze Station Spalier. Es ist der 10. September 2015.

Fremdes Herz rettere Leben, das fast schon verloren war

Gut drei Jahre sind seit diesem Tag im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) vergangen, und immer noch hat Ralf Struckhof Tränen in den Augen, wenn er eintaucht in die Erinnerung. Er sitzt am Küchentisch im Haus der Familie bei Hamburg, im Hintergrund plätschert das Aquarium. Der 52-Jährige will so vielen Menschen wie möglich erzählen, wie ein fremdes Herz ihm sein Leben gerettet hat, das fast schon verloren war.

Gesundheitsminister Jens Spahn will auch in Deutschland die Widerspruchslösung bei der Organspende einführen, und Struckhof möchte Zweiflern die Angst davor nehmen. Wer nicht zu Lebzeiten widersprochen hat, wird im Fall eines Hirntodes als Organspender angesehen: In vielen Ländern ist es so geregelt. Und dort warten die Patienten nicht so lange. Viele Deutsche sind für die Regelung offen.

Am Anfang begriff er den Ernst der Lage nicht

Im August 2010 fuhr Ralf Struckhof sein liebstes Radrennen, die Cyclassics, viel langsamer als sonst. „Ich hab wohl nicht genug trainiert“, dachte er nur. Typ gelassener Hamburger. Er brauchte dann aber zwei Wochen, um sich zu regenerieren. „Völlig untypisch.“ Seine Frau wunderte sich, dass er ins Schnaufen geriet, wenn er nur die Treppe raufging.

„Sie sind topfit, alle Organe super – nur das Herz sieht komisch aus“: Das war das Ergebnis eines Gesundheitschecks, den sein Arbeitgeber, die HSH Nordbank, zufällig gerade anbot. Er ging zum Kardiologen. Ein paar Monate, einige Fehlannahmen und viele Untersuchungen später stand fest: Ralf Struckhof hat einen sehr seltenen Gen-Defekt, die Non-Compaction-Kardiomyopathie. Seine Herzmuskeln sind nicht in der Dichte ausgebildet, wie sie es sein müssten, um Blut und Sauerstoff ausreichend in den Körper zu pumpen.

Der Körper, zumal der eines Sportlers, kann das lange ausgleichen. Aber nicht mehr mit Mitte 40.

Seine Frau schickte ihn ins Krankenhaus

Anfangs fand er es nicht einmal besonders dramatisch. Kein Leistungssport, sondern Medikamente und leichte Bewegung. 2011 ein Mini-Defibrillator unter der Haut, 2014 nachts eine Atemmaske, weil die Atmung manchmal aussetzt: Er nahm das alles hin. Keine Panik. Aber irgendwann war es vorbei mit der Gelassenheit.

Im Januar 2015 war er nach einem Schachturnier erschöpft wie nie zuvor. Er bekam kaum Luft. Seine Frau setzte sich durch: Ab ins Krankenhaus! In der Notaufnahme brach er zusammen. Außer einer Transplantation hilft hier nichts mehr, sagten die Ärzte. Da war er, der Schock.

So kann eine Organspende Leben retten

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    Das große Warten begann

    Zwei Wochen wurde Ralf Struckhof untersucht. Er durfte keinen Krebs haben (würde das Herz angreifen) und keine Entzündung (ebenso). Er erfüllte alle Bedingungen und wurde der Stiftung Eurotransplant, die für acht Länder die verfügbaren Organe verteilt, als „High Urgent“ gemeldet. Sehr dringend.

    Der komplexe Prozess einer Organspende war angestoßen. Den Ablauf koordiniert in Deutschland die Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO), sie arbeitete mit der Transplantationsbeauftragten des Herzzentrums zusammen, die ihn betreute. Das große Warten begann.

    Gegenseitig stützen – auch wenn wieder einer starb

    Dass es acht Monate dauern würde, ahnte Ralf Struckhof anfangs nicht. „Irre und ganz schrecklich“ sei es gewesen. Er durfte die Station nicht verlassen. Was blieb, wenn die Besucher gegangen waren? Schachspielen im Internet. Fotobücher anlegen. Steuererklärung. Lesen. Alles bis zum Überdruss getan, immer noch kein Spenderherz in Sicht.

    Hoffnung. Hoffnungslosigkeit. Wieder Hoffnung. Würde er sein Leben zurückbekommen oder verlieren? Auch um die Ungewissheit auszuhalten, wurde er psychologisch betreut. Das gehört dazu. Und er fand Verbündete auf der Station, Schicksalsgenossen. Sie stützten einander, auch, wenn wieder einer starb.

    Für die Familie sei das eine harte Zeit gewesen, sagt er. Seine Frau Bettina, die beiden Kinder Linnéa und Moritz, damals elf und 15 Jahre alt: Ihr Leben musste ja weitergehen, während seines stillstand. Er überzeugte seine Frau, dass sie nicht jeden Tag zu kommen brauchte. Die Kinder kamen an den Wochenenden. Sie hielten es durch. Und sie hatten Glück. Die Ärzte sagten später, lange hätte sein krankes Herz das Warten nicht mehr mitgemacht.

    Tochter begriff damals gar nicht, dass es schiefgehen konnte

    Linnéa ist jetzt 14. Sie kommt im St.-Pauli-Trikot in die Küche, gleich sehen sie sich zusammen das Auswärtsspiel im Fernsehen an. Linnéa sagt: Dass es schiefgehen könnte mit dem Papa, habe sie als Elfjährige gar nicht richtig begriffen. Von Moritz’ Lehrer kam, als alles vorbei war, die Nachricht, dass der Junge sich wieder am Unterricht beteilige. „Wir sind als Familie noch stärker zusammengewachsen“, sagt der Vater.

    Am 11. September 2015 wacht er mit seinem neuen Herzen auf. Und er kann sofort sehen, sprechen, seine Familie erkennen: Das alles hätte erst mal ein Problem sein können. Doch er ist wie in einem Begeisterungsrausch, es geht ihm super. „Meine Güte, du sabbelst ja“, sagt seine Frau. Nach zwei Tagen erst knickt er ein, merkt die Anstrengung der OP. Er verliert in kürzester Zeit 15 Kilo.

    Inzwischen nur noch zehn statt 27 Tabletten – pro Tag

    Ein halbes Jahr ist er danach krankgeschrieben. Trägt draußen Mundschutz. Meidet öffentliche Verkehrsmittel, desinfiziert sich die Hände, passt genau auf, was er isst. Bis heute spülen sie das Geschirr bei 70 Grad. Keime sind gefährlich. Sein Immunsystem wird geschwächt, damit der Körper das Herz nicht abstößt.

    Inzwischen aber nimmt er morgens statt 27 nur noch zehn Tabletten. Der Körper ist wieder stärker geworden, auch wenn Immunsuppressiva und Blutdrucksenker bleiben werden. Regelmäßige Arztbesuche sowieso.

    Er gilt als schwerbehindert. Trotzdem sagt Ralf Struckhof: Mir geht es so gut wie seit 20 Jahren nicht. Der Sport ist zurück in seinem Leben. Sogar Wettbewerbe: Er ist, unter anderem, Europameister der Herz-Lungen-Transplantierten über 50 Meter Brustschwimmen. Die Medaillen hängen im Wohnzimmer. „Eine super Gemeinschaft“, sagt er über die Sportler. „Transdia“ heißt ihr Verein in Deutschland. Nächstes Jahr wird er noch mehr Zeit dafür haben. Er nimmt das Angebot seiner Firma an, in Vorruhestand zu gehen. Er mag seinen Job, aber hat jetzt andere Prioritäten.

    Er hat sich bei den Angehörigen bedankt

    Und der Mensch, dem er das alles zu verdanken hat? Er denkt häufig an ihn. Das Herz ist viel jünger als er, hat ihm ein Arzt gesagt. Und er selbst spürt, dass es von einem Sportler gekommen sein muss. Er ist stolz auf sein Herz und hatte keine Probleme, es zu akzeptieren. Das geht nicht allen Transplantierten so.

    Deshalb findet Ralf Struckhof die Anonymität wichtig: Je weniger man über den weiß, dessen Tod das eigene Weiterleben ermöglichte, desto einfacher, sagt er. Er hat den Angehörigen seines Spenders geschrieben. Die Stiftung Eurotransplant leitet diese Post weiter. Anonym. „Meine Kinder lachen wieder“, hat er geschrieben. Es kam keine Antwort. Das ist in Ordnung für ihn.

    Hauptsache, er konnte Danke sagen.

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    Organspende Laut der Deutschen Stiftung Organtransplantation (dso.de) hoffen in Deutschland 10.000 Schwerkranke auf ein Spenderorgan. Der Hirntod, also der unumkehrbare Verlust der gesamten Hirnfunktionen, ist Voraussetzung für eine Organspende. Laut DSO zeigen Studien, dass in Deutschland eine Zahl von 15 Spendern pro eine Million Einwohner möglich wäre. 2017 waren es knapp zehn pro eine Million – 797 Organspender. Die niedrigste Zahl seit 20 Jahren. Helfen soll die doppelte Widerspruchslösung, bei der jeder zu Lebzeiten Nein sagen kann, ansonsten im Fall eines Hirntods als Spender gilt – wenn die Angehörigen dann nicht widersprechen. Die DSO fordert aber vor allem die Stärkung der Transplantationsbeauftragten in Kliniken und eine ausreichende Vergütung der Entnahmekrankenhäuser. Auch das findet sich im Gesetzentwurf von Jens Spahn.