Berlin. Das Schiff „Polarstern“ lässt sich in der Arktis einfrieren. Die Region gilt als Frühwarnsystem für Veränderungen des Erd­klimas.

Am 9. Oktober 1893, gut zehn Wochen, nachdem Polarforscher Fridtjof Nansen von Norwegen aus gestartet ist, schließt das Packeis sein Forschungsschiff ein. Das Eis scheint gegen die „Fram“ zu kämpfen, doch der speziell angefertigte Dreimastschoner hält dem Druck stand.

„Nachmittags – wir saßen gerade müßig und plauderten – entstand ganz plötzlich ein ohrenbetäubendes Getöse und das ganze Schiff erzitterte. (...) Es war die erste Eispressung. Alle Mann stürzten an Deck, um zuzusehen. Die ,Fram‘ verhielt sich wundervoll, wie ich es von ihr erwartet hatte.“ Das schreibt Nansen später in seinem Buch „Farthest North“. Mit der Forschungsreise in der Arktis versuchte der Norweger, mithilfe der natürlichen Eisdrift den geografischen Nordpol zu erreichen.

Experten aus 17 Ländern „driften“ auf Nansens Spuren

125 Jahre später soll es nun erstmals eine Expedition auf den Spuren von Fridtjof Nansens Eisdrift geben. Ab Herbst 2019 soll das deutsche Forschungsschiff „Polarstern“ bei dem Projekt „Mosaic“ (Multidisciplinary drifting Observatory for the Study of Arctic Climate) ein Jahr lang das arktische Klima erkunden.

„Mosaic ist die größte Arktis-Expedition, die jemals durchgeführt wurde. Das ist eine Größenordnung an Polarlo­gistik, die wir noch nicht gesehen haben. Insgesamt werden um die 600 Leute aus 17 Ländern beteiligt sein“, sagt Expeditionsleiter Markus Rex vom Alfred-Wegener-Institut (AWI) für Polar- und Meeresforschung bei der Präsentation in Berlin. Das AWI leitet das 120 Millionen Euro teure Projekt, 90 Prozent der Kosten trägt das Bundesministerium für Forschung.

Forschungsschiff muss mit dem Eis driften

Bisher schaffen es Eisbrecher nicht, sich vor allem im Winter durch das Arktis-Packeis zu pflügen. Dort unterwegs zu sein, sei nur möglich, indem das Schiff ohne eigenen Antrieb vom Meereis ein­geschlossen werde und passiv mitdrifte, sagt AWI-Chef-Wissenschaftler Rex. „Damit haben wir dann die Chance, die Region ganzjährig zu erfahren.“ Ziel von „Mosaic“ ist es, den Klimawandel besser zu verstehen.

Die Arktis gilt als Frühwarnsystem für Veränderungen des Erd­klimas. Der Anstieg der Temperaturen lässt das Eis massenweise schwinden, Gletscher schrumpfen, der Meeresspiegel steigt. Mit einer wärmeren Arktis gehen zahlreiche Rückkopplungen einher: Wenn das Eis dünner wird, gelangt wiederum mehr Wärme aus dem Ozean an die Oberfläche und in die Atmosphäre.

Moderne Expedition wird logistische Mammutaufgabe

Das hat globale Auswirkungen, weil geringere Temperaturunterschiede zwischen Arktis und Tropen die typischen Luftdruckmuster verändern. Die Folge sind auch ex­treme Wetterlagen. „Die Arktis ist die Schlüsselregion globaler Klimaveränderungen“, sagt Rex. Sie habe sich in den vergangenen Jahrzehnten von allen Regionen der Erde am stärksten erwärmt. „Wir verstehen die Prozesse, die dazu beitragen, aber nicht besonders gut.“ Die „Mosaic“-Mission hat fünf Schwerpunkte: die Physik des Meereises und der Schneeauflage, die Prozesse in der Atmosphäre sowie im Ozean, die chemischen, biologischen und physikalischen Kreisläufe sowie das Ökosystem der Arktis.

Die Fram nach der Eispressung. Friedtjof Nansen Nordpol-Expedition. Handkoloriertes Glasdiapositiv. Um 1910 [ Rechtehinweis: picture-alliance / Imagno ]
Die Fram nach der Eispressung. Friedtjof Nansen Nordpol-Expedition. Handkoloriertes Glasdiapositiv. Um 1910 [ Rechtehinweis: picture-alliance / Imagno ] © picture-alliance / IMAGNO/Österr | dpa Picture-Alliance / Anonym

Das wissenschaftliche Erbe von Nansens Expedition wirkt jedenfalls bis heute nach. Sie gewährte einen Einblick in die Strömungsverhältnisse im Nordpolarmeer und machte klar, dass es am Nordpol kein Land gibt, sondern nur eisig kalte Tiefsee. Während die Mission 1983 mit einer 13-köpfigen Besatzung und Schlittenhunden auskam, ist „Mosaic“ eine logistische Mammutaufgabe: Vier weitere Eisbrecher aus Russland, China und Schweden versorgen die Expedition mit Treibstoff und tauschen Personal aus. Rund um die Polarstern sollen kilometerweit Messstationen mitdriften – und von Helikoptern angeflogen werden. Für Versorgungsflüge und zwei Forschungsflugzeuge wird neben dem Schiff eine Landebahn errichtet.

Herausforderung auch für erfahrene Polarforscher

Die Expedition werde auch für die erfahrenen Polarforscher eine Herausforderung, sagt AWI-Direktorin Antje Boetius. Temperaturen um minus 40 Grad, eisiger Wind und Dunkelheit seien sie gewohnt. Aber das Eisdriften sei Neuland. Geschätzt wird, dass sich das Schiff pro Tag nur sieben Kilometer fortbewegt.

Fridtjof Nansen in seiner Kajüte auf der Fram.
Fridtjof Nansen in seiner Kajüte auf der Fram. © picture-alliance / IMAGNO/Österr | dpa Picture-Alliance / Anonym

Nansen beschrieb den Frust einst in seinem Tagebuch: „Ich fühle, dass ich diese Leblosigkeit, diese Trägheit durchbrechen und ein Ventil für meine Tatkraft finden muss.“ Und Tage später: „Kann nicht irgendetwas passieren? Kann nicht ein Wirbelsturm aufziehen und dieses Eis aufbrechen?“

Ziel ist die Nordostküste Grönlands

Die „Polarstern“ sticht im September 2019 im norwegischen Tromsø in See. Zwischen Laptewsee und Ostsibirischer See will sie sich einfrie­ren lassen, etwa auf Höhe ­des 85. Breitengrads. „Im Sommer 2020 spuckt es uns dann in der Framstraße wieder aus“, so Rex. Diese liegt vor der Nordostküste Grönlands. Nansen hatte aber den nördlichsten Punkt der Erde verfehlt.