Berlin. Früher hat Sebastião Salgado Menschen als Opfer gezeigt. Nun kämpft der weltberühmte Fotograf für den Erhalt der Natur. Und noch mehr.

Es ist nicht so einfach, mit Sebastião Salgado im Berliner Naturkundemuseum einen Ort zu finden, an dem es keine Ablenkung gibt. Der charismatische Fotograf aus Paris inspiziert alles mit kindlicher Neugier. Selbst die kleinen Skizzen eines Flugsauriers: „Gucken Sie mal! Die sind hier vor langer Zeit mal herumgeflogen.“

Der 74-Jährige könnte wohl Stunden an so einem Ort der Ursprünglichkeit verbringen, das ist auch sein Thema. Doch die Zeit drängt. Der Umweltverband WWF und die Förderbank KfW haben Salgado zu einer Podiumsdiskussion nach Berlin eingeladen, um über das Dilemma des Regenwaldes zu sprechen. Wir treffen den Meister der Schwarz-Weiß-Fotografie vorab zum Interview.

Herr Salgado, was war Ihr letztes Foto?

Salgado: Ein Fluss. Ein wunderschöner kleiner Fluss in Amazonien. Das war letzte Woche. Wir hatten den Ort auf dem Rückweg von unserer Arbeit im Regenwald entdeckt. Ich hatte dort einen Monat lang mit dem indigenen Volk der Marubo gearbeitet. Amazonien ist mein aktuelles Langzeitprojekt. Dort gibt es die größte noch verbliebene Regenwaldregion der Erde – gut 15-mal so groß wie Deutschland. Ich fotografiere die Wassersysteme, den Wald, die Natur und jetzt die Menschen, die mit ihr leben.

Was erzählen die Menschen auf Ihren Bildern?

Salgado: Es gibt im brasilianischen Urwald viele Gruppen, die ohne jeden Kontakt zur Außenwelt leben. Wie viele das sind, wissen wir nicht. Menschen wie wir müssen verstehen, was ursprünglich bedeutet und warum es sich lohnt, das zu schützen.

Der Welt sind Sie als Fotograf bekannt, der die Menschen als Opfer zeigt – von Ausbeutung, Gewalt, Flucht und Hunger. Jetzt geht es um die Natur. Was ist passiert?

Salgado: Ich habe mich in den Neunzigerjahren mit vielen schrecklichen Geschichten auseinandergesetzt. Der Völkermord in Ruanda. Oder das, was im ehemaligen Jugoslawien passiert ist. Diese unvorstellbare Gewalt, die ich gesehen habe, hat mich stark getroffen. Ich wurde sehr krank. Ich musste aufhören, sonst wäre ich mit den Leuten gestorben, die ich fotografierte.

Wie ging es weiter?

Salgado: Meine Eltern haben mir und meiner Frau damals ihre Farm überlassen. In meiner Kindheit war sie das Paradies, sie bestand zum großen Teil aus Regenwald. Aber als wir dann nach Brasilien zurückkehrten, war dort alles zerstört. Der ganze Regenwald: vernichtet. Überall hatte man Gras gepflanzt, um Rinder zu halten. Wir sahen nur noch Ödland. Meine Frau hatte dann die verrückte Idee: Komm, lass uns den Regenwald neu pflanzen! Wir haben mit Experten gesprochen und Geld aufgetrieben.

Wie sieht die Farm heute aus?

Salgado: Sie ist heute wieder ein Paradies. Wir haben mehr als zwei Millionen Bäume gepflanzt. Das ist nicht so einfach, denn um das ökologische Gleichgewicht wiederherzustellen, mussten es über 200 verschiedene heimische Bäume sein. Wir haben die Naturschutzorganisation Instituto Terra gegründet und mehr Land dazu gekauft, das wir renaturieren. Inzwischen sind 230 Tierarten in den Wald zurückgekehrt: Amphibien, Reptilien, Vögel und Säugetiere.

Auf der anderen Seite schreitet die Abholzung des Regenwaldes ungehindert voran.

Salgado: Das ist das Drama. Wir Menschen haben es in verhältnismäßig kurzer Zeit geschafft, den größten Teil des Regenwaldes zu zerstören. Wir haben Städte und Straßen gebaut, wir nutzen die Flächen für Bergbau und Landwirtschaft, nicht einzelne Betriebe, sondern riesige Industrien.

Wir zerstören unsere Biodiversität, indem wir Monokulturen für Sojabohnen anlegen oder schöne Gärten mit Rosenbeeten. Unsere 20 sogenannten Hotspots, also die wichtigsten Ökosysteme der Welt, sind tot oder stehen vor dem Kollaps. Wir haben einen großen Teil unserer Vögel und unserer Insekten vernichtet. Und wenn wir die Insekten zur Strecke gebracht haben, stirbt noch viel mehr.

Das Insektensterben ist auch in Deutschland ein Problem.

Salgado: Ich weiß, hier haben sie kaum noch welche. Das habe ich heute schon mit den Leuten vom WWF diskutiert: Früher waren die Autoscheiben voll mit toten Insekten – heute ist das nicht mehr so.

Glauben Sie, dass unser Planet nicht mehr zu retten ist?

Dieses Foto zeigt das Volk der Marubo im Amazonastiefland.
Dieses Foto zeigt das Volk der Marubo im Amazonastiefland. © Sebastião SALGADO / Amazonas | © Sebastião SALGADO / Amazonas images

Salgado: Unser Planet kann gut auf sich selbst aufpassen. Er ist Teil eines Systems, er wird nicht verschwinden. Aber wir werden es – in sehr kurzer Zeit. Das ist der Punkt. Wir sind bald weg. Die Temperaturen steigen immer weiter, das Eis schmilzt immer schneller, es gibt immer mehr Wetterkatastrophen.

Durch die Abholzung der Urwälder verlieren wir wesentliche Kohlenstoff-Speicher. Wir sind nicht imstande, in solch einer Umwelt zu überleben. Wenn wir am Ende des Jahrhunderts acht oder zehn Grad höhere Temperaturen haben, werden Milliarden Menschen verschwinden. Das heißt: Wir müssen unseren Planeten schützen, damit wir bleiben können.

Was können wir tun?

Salgado: Wir müssen die Gesetze der Natur respektieren. Dann können wir dem Planeten etwas zurückgeben von dem, was wir zerstört haben. Um das Gleichgewicht wieder herzustellen. Das ist möglich.

Sie selbst haben schon viel zurückgegeben.

Salgado: Wir haben jede Menge Bäume gepflanzt, aber das ist nicht zu vergleichen mit dem, was notwendig ist. Daran müssen wir alle zusammen arbeiten.

Im Pariser Klimaschutzabkommen steht, dass in Brasilien zwölf Millionen Hektar Regenwald wieder aufgeforstet werden sollen.

Salgado: Das Ziel ist ein Traum. Seit der Klimakonferenz 2015 ist aber nichts passiert.

Warum reguliert die Regierung die Abholzung nicht besser?

Salgado: Dafür muss man wissen, wer die Regierung ist. Sie besteht aus unterschiedlichen Interessengruppen. Teile der wichtigsten Repräsentanten vertreten die Agrarwirtschaft. Sie will den Regenwald zerstören, um Profite zu machen. Auf der anderen Seite gibt es die Umweltschützer. Das ist ein großer Kampf.

Ihre Bilder zeigen keinen Kampf.

Salgado: Ich will unseren Planeten fotografieren, wie er ursprünglich ist. Ich will erzählen, dass es noch eine Welt gibt, so wie sie war, als alles begann.

Zur Person: Sebastião Salgado(74) ist in Brasilien geboren und lebt heute in Paris. 1981 war er zufällig beim Anschlag auf US-Präsident Reagan anwesend, die Bilder brachten ihm Geld für soziale Projekte. Berühmt wurde er durch seine Fotoreportage über hart arbeitende Goldschürfer in Brasilien. Sein 2013 erschienener Fotoband „Genesis“ zeigt Völker und Landschaften, die von der Entwicklung unberührt blieben. Regisseur Wim Wenders widmete ihm 2014 den Dokumentarfilm „Das Salz der Erde“.