Berlin. Auf Deutschlands Straßen rollt die Retrowelle: Fast eine halbe Million Oldtimer sind dort inzwischen unterwegs, mehr als je zuvor.

Über manche der Fahr­zeuge, die mit einem H-Kennzeichen unterwegs sind, lächelt Wolfgang Krämer müde. Ein 30 Jahre altes Auto ist gemäß der Definition des Verkehrsrechts bereits ein Oldtimer, aber für Enthusiasten wie Krämer sind all die Golf 1, Audi 100 und 3er-BMW aus den 1980er-Jahren junge Hüpfer.

Der Mann aus dem westfälischen Siegen sammelt Wagen aus der Frühphase der Automobilentwicklung. Sein ältester ist ein französischer Léon Buat, Baujahr 1903, Spitzname Leo. „Den habe ich mir mit 28 Jahren gekauft“, schwärmt Krämer (63). „Im selben Jahr ist meine Tochter geboren, die fährt heute auch damit. Leo ist ein Familienmitglied.“

Elf Prozent mehr Autos mit H-Kennzeichen

Oldtimer sind eine irrationale Leidenschaft. Sie fressen Unmengen Benzin und bieten kaum Komfort. Trotzdem erliegen immer mehr Deutsche dem Charme der Schnauferl, wie alte Wagen einst genannt wurden. Deutschlandweit waren Anfang Januar 477.386 Fahrzeuge mit H-Kennzeichen unterwegs – das sind knapp elf Prozent mehr als im Jahr zuvor, wie aus nun veröffentlichten Zahlen des Kraftfahrt-Bundesamtes hervorgeht.

Bereits jetzt sind ein Prozent aller zugelassenen Fahrzeuge Oldtimer. Bis 2030 rechnen Beobachter mit etwa 1,7 Millionen zugelassenen Oldies auf deutschen Straßen. Was fasziniert so viele Menschen an alten Autos?

Für Liebhaber sind Oldtimer Kunstwerke

Da ist zum einen das gute Gefühl, ein Kulturgut zu pflegen. „Heute geht es nur noch darum, bestehende Autos weiterzuentwickeln“, findet Wolfgang Krämer. „In meinen Oldtimern dagegen stecken echte Erfindungen.“ Das Fahrgefühl in einem Oldtimer sei nicht zu vergleichen mit dem eines Neuwagens. „Wenn Leo gut drauf ist, spüre ich jeden Hub des Zylinders.“ Dazu kommt: „Da die Technik damals so simpel gewesen ist, kann ich viele Mängel selbst beheben.“

Für wahre Fans wie ihn ist ein Auto mehr als ein Fortbewegungsmittel. Es ist Statussymbol, Lifestyle-Accessoire und Kunstwerk, mit dem sie ihre Individualität ausdrücken. Fachmessen wie die Motorworld Classics Berlin, die Hamburg Motor Classics oder die Techno-Classica in Essen locken Hunderttausende Besucher an, die sich an geschwungenen Linien und blitzendem Chrom erfreuen.

Dass diese Fahrzeuge nach heutigen Maßstäben immense Schadstoffmengen produzieren, stört kaum jemanden – auch nicht den Bundesverkehrsminister. Andreas Scheuer fährt privat das letzte Auto des früheren CSU-Chefs Franz Josef Strauß, einen BMW 325ix. „Mein Hobby sind alte Autos“, gestand Scheuer unlängst unserer Redaktion.

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    Sehnsucht nach den Träumen der Jugend

    Cornelius Blanke vom Automobilclub ADAC formuliert es so: „Viele moderne Modelle sehen relativ gleich aus.“ Dagegen habe beispielsweise ein alter Manta einen eindeutigen Wiedererkennungswert. Manche sehnen sich gar nicht nach extravaganten Ikonen wie dem Leo von Wolfgang Krämer – sondern nach ziemlich gewöhnlichen „Wald- und Wiesenwagen“.

    Modelle wie der Saab 900 oder der Porsche 914 („Volks-Porsche“) bedienen das Stilempfinden der Generationen, die in den 70er- und 80er-Jahren jung waren. „Das sind Autos, von denen man in der Jugend geträumt hat, die man sich dann, wenn man im Alter die Mittel hat, kauft“, sagt Horst F. Beilharz (74) vom Allgemeinen Schnauferl-Club ­Niedersachsen.

    Alte Autos sind auch eine Geldanlage

    Abseits des nostalgischen Gefühls sind Oldtimer in den vergangenen Jahren zu einer beliebten Geldanlage geworden. Statt in Immobilien oder Kunst zu investieren, kaufen sich Betuchte ein seltenes Fahrzeug und drücken so ihren Wohlstand aus.

    Ferrari-Sportwagen aus den 50ern haben nach Angaben des Bochumer Marktbeobachters Classic-Analytics in den letzten Jahren Wertsteigerungen von bis zu 500 Prozent erfahren. „Tote Marken“ seien hingegen nicht zu empfehlen. Denn wer sich heute einen Oldtimer kaufe, könne mit alten Namen wie Borgward nichts mehr anfangen.

    Alltagstauglich sind jedoch die wenigsten Schnauferl, wie Wolfgang Krämer aus Siegen einräumt. Mehr als 40 Stundenkilometer schafft sein Leo nicht. Zum Brötchenholen nimmt er dann doch seinen Audi.