Washington. In den USA ist Missbrauch von Drogen und Medikamenten die häufigste Todesursache bei den unter 50-Jährigen. Die Regierung schaut weg.

Im August hatte Donald Trump ihn bereits angekündigt, Ende Oktober rief er dann offiziell den „nationalen Gesundheitsnotstand“ aus. Damit trägt der US-Präsident der größten Drogenkrise seit Jahrzehnten Rechnung.

Drei Millionen Menschen sind nach Regierungsangaben von starken Schmerzmitteln wie Oxycontin oder Fentanyl sowie von Heroin abhängig. 2015 starben täglich 142 US-Bürger an einer Überdosis – mehr als bei Verkehrsunfällen oder durch Schusswaffengewalt. 2016 wurden fast 64.000 Tote gezählt, laut der staatlichen Gesundheitsbehörde CDC beinahe eine Verfünffachung in knapp acht Jahren.

Das entspricht einer Todesrate von mehr als 20 auf 100.000 Einwohner. Zum Vergleich: In Deutschland sterben pro Jahr statistisch gesehen 1,5 Menschen je 100.000 Einwohner an den Folgen von Drogenmissbrauch.

Der volkswirtschaftliche Schaden in den USA hat inzwischen astronomische Größenordnungen erreicht. Von 2013 (78 Milliarden Dollar, 65 Milliarden Euro) sind die Folgekosten der Opioid-Epidemie nach Berechnungen des Wirtschaftsrats der Regierung auf 500 Milliarden Dollar in 2015 gestiegen.

Sammelklagen gegen Pharma-Konzerne

US-Präsident Donald Trump wollte dem Drogenmissbrauch in den USA ein Ende setzen – es blieb bei einem Lippenbekenntnis.
US-Präsident Donald Trump wollte dem Drogenmissbrauch in den USA ein Ende setzen – es blieb bei einem Lippenbekenntnis. © dpa | Carolyn Kaster

Um der Katastrophe angemessen zu begegnen, müsse der Kongress in Washington mehr Geld zur Verfügung stellen, verlangen die oppositionellen Demokraten. Etwa für Therapieplätze und die Entwicklung weniger süchtigmachender Schmerzmittel. Die republikanische Mehrheit hat andere Prioritäten. Fachleute aus Medizin, Wissenschaft und Drogenhilfe befürchten, dass Trumps Spruch von Oktober – „Wir können die Generation sein, die die Opioid-Epidemie beendet“ – ein Lippenbekenntnis bleibt.

Über 40 Bundesstaaten, rund 100 Landkreise und Dutzende Städte gehen deshalb bereits eigene Wege: Sie verklagen die großen Pharmakonzerne, mit denen nach Ansicht von Gesundheits-Experten die Misere begann. Dabei orientieren sich die Kläger bis in die Rekrutierung ihrer Top-Anwälte an dem Szenario Ende der 90er-Jahre, als „Big Tobacco“ zur Kasse gebeten wurde.

Die Zigaretten-Multis waren, was die gesundheitsschädlichen Wirkungen ihre Produkte angeht, jahrelang nach der Taktik Leugnen-Verharmlosen-Ablenken verfahren. Das kostete sie über 250 Milliarden Dollar für Strafen und außergerichtliche Vergleiche. Diesmal könnten die Summen nach Einschätzung von Insidern noch höher ausfallen, wenn die Fälle gebündelt und vor Gericht gebracht werden.

Pharma-Konzern verschweigt Suchtpotenzial von Schmerzmittel

Beispiel Purdue: Das aus dem Neuengland-Bundesstaat Connecticut stammende Unternehmen der Milliardärsfamilie Sackler entwickelte vor über 20 Jahren das Schmerzmittel Oxycontin; ein Opioid, das deutsche Forscher bereits vor 100 Jahren entdeckt hatten. Die Pille kam 1996 auf den Markt, wurde von Purdue bei Ärzten aggressiv beworben und in der Folgezeit selbst bei Allerweltskrankheiten wie Knieschmerzen oder Bandscheibenschaden zum Kassenschlager.

Dass Oxycontin ein Präparat mit hohem Suchtpotenzial ist und schnell extrem abhängig macht, hatte der Konzern verschwiegen. „Im Arsenal der Betäubungsmittel ist Oxycontin eine Nuklearwaffe“, sagt etwa der Schmerzmittelexperte Barry Meier. Purdue hat mit Oxycontin bis heute rund 35 Milliarden Dollar verdient. Die Firma konnte darum verschmerzen, als sich vor zehn Jahren drei Manager schuldig bekannten, die Suchtgefahren des Präparats verharmlost zu haben. Purdue zahlte rund 650 Millionen Dollar Strafe.

US-Bürger suchten sich Heroin als Ersatzdroge

Das Schmerzmittel Oxycontin wurde von der Pharma-Industrie massiv beworben und sehr oft verschrieben – obwohl es schnell abhängig macht.
Das Schmerzmittel Oxycontin wurde von der Pharma-Industrie massiv beworben und sehr oft verschrieben – obwohl es schnell abhängig macht. © imago/ZUMA Press | imago stock&people

Als die Todeszahlen durch falsche Dosierung explodierten, schränkte die Regierung in Washington die Vergabe von Oxycontin und ähnlichen Schmerzmitteln ein. Mit dem Resultat, dass die abhängig gewordenen Patienten Ersatz suchten. Geliefert wurde er von aus Lateinamerika operierenden Drogenkartellen. Sie brachten zum Spottpreis von zehn Dollar pro Anwendung Heroin ins Land, das chemisch mit Oxycontin verwandt ist. Konsequenz: Hunderttausende, die unter normalen Umständen wohl nie mit harten Drogen in Kontakt gekommen wären, hängen heute an der Nadel.

Einige greifen als Ersatz zu noch härteren Substanzen wie Fentanyl oder Carfentanyl, ein Betäubungsmittel für Elefanten. Beide lassen sich in den USA via Internet bequem in chinesischen Internetapotheken bestellen – oft mit tödlicher Wirkung. Zu den prominentesten Opfern gehört der Rocksänger Prince.

Die Konsequenzen sind dramatisch: Zum ersten Mal seit 24 Jahren ist die Lebenserwartung in den USA offiziell gesunken. Der Missbrauch von Medikamenten und Drogen wie Heroin und anderen harten Mitteln ist inzwischen unabhängig vom sozialen Status die häufigste Todesursache für Menschen unter 50 Jahren. Laut der Gesundheitsbehörde CDC sind so viele Pillen wie Oxycontin in den amerikanischen Haushalten auf Lager, dass man die komplette Bevölkerung – immerhin rund 325 Millionen Menschen – „drei Wochen lang nonstop betäuben könnte“.

Stadt verzeichnete 28 Überdosierungen an einem Tag

Strengere Verschreibungsrichtlinien, die auf alternative Behandlungsmethoden setzen, sind darum nur eine Facette im Hilfepanorama, das Drogenexperten in der obersten Medizinbehörde der USA für notwendig erachten. „Kurzfristig fehlt es gerade abseits der Metropolen an Therapieplätzen und psychosozialer Versorgung, weil Politik, Kliniken und Versicherungen sich über die Kostenübernahme nicht einig werden“, heißt es beim National Institute of Health in Bethesda bei Washington.

Wie dramatisch dieses Vakuum ist, zeigt sich etwa am Beispiel der 50.000- Einwohner-Stadt Huntington. Sie liegt in den sozial schwachen Kohlerevieren des bitterarmen Bundesstaates West Virginia. Seit Huntington an einem einzigen Sommertag 28 Überdosierungen verzeichnete, gilt das Nest landesweit als „Ground Zero“ der Opioid-Krise.

Sozialarbeiter berichten von Hunderten Säuglingen, die mit Entzugserscheinungen geboren wurden, weil ihre Mütter von Heroin abhängig sind. Wobei 80 Prozent der Süchtigen in Huntington angeben, mit Schmerzlösern angefangen zu haben. Im zuständigen Landkreis Cabell County gingen binnen fünf Jahren fast 50 Millionen Dosen Opioide über die Ladentheke. Die Medikamente werden von Großkonzernen wie McKesson vertrieben, dem mit 76.000 Mitarbeitern und 200 Milliarden Dollar Jahresumsatz fünftgrößten Unternehmen in den USA.

Justizministerium pfiff die Drogenbehörde zurück

Die staatliche Drogenbekämpfung DEA wollte den Multi nach zweijährigen Ermittlungen auf eine Billion Dollar Schadensersatz verklagen, wie Medien kürzlich berichteten. Grund: McKesson hatte angeblich millionenfach süchtig machende Schmerzmittel an dubiose Apotheken geliefert, die damit wiederum Drogenringe versorgten.

Die DEA arbeitete mit den Generalstaatsanwälten aus elf Bundesstaaten zusammen und war kurz davor, McKesson-Boss John Hammergren in der Zentrale in San Francisco zu verhaften. Da intervenierte plötzlich das Justizministerium in Washington, pfiff die DEA zurück und einigte sich mit dem Konzern in einem außergerichtlichen Deal.

Ein ermutigendes Zeichen für die Bekämpfung der Drogenkrise, sagen Drogenfahnder, ist das nicht.