Wolfsburg. Die neue Ausstellung „Erstaunliche Entwicklungen“ will die Menschheit von weitem betrachten. Was lernen wir daraus über uns?

Die Installation von Julia Oschatz vermag es, den Ausstellungsgast in eine meditative Stille zu versenken. Dabei ist sie eigentlich ziemlich laut. Aus fünf Bildschirmen lärmt und klappert es gleichzeitig. Angeordnet sind sie in einer begehbaren Architektur, die zwei Teile des Ausstellungsraums im Kunstverein in Wolfsburg miteinander verbindet.

Den schwarz gestrichenen Durchgang dominieren Pappelemente, zwischen denen man sich hindurschlängeln muss. Die Installation erinnert ein bisschen an einen wissenschaftlichen Aufbau; oder ein begehbares Schulprojekt. Sie hat etwas Dokumentarisches, aber auch etwas Verspieltes. Die Bildschirme sind in einige der Pappskulpturen eingefasst. Zu sehen: Jeweils bis zu 15 Minuten lange Videos in schwarz-weiß, in denen sich eine Figur mit überdimensionaler Kopfbedeckung aus Pappe in weiteren Pappgebilden bewegt.

Die multimediale Installation „Dear Cella“ der Künstlerin ist Teil der neuen Ausstellung „Erstaunliche Entwicklungen“ im Kunstverein im Schloss Wolfsburg. Die ist Teil des Jahresprogramms „Ent-Spalten“, das sich mit der zunehmenden Polarisierung in der Gesellschaft beschäftigen will. Als erster Teil der Reihe geht es in der aktuellen Gruppenausstellung darum, „einen größeren Blickwinkel einzunehmen und Ereignisse aus einer weiteren Perspektive zu betrachten“, wie Justin Hoffmann, Direktor des Kunstvereins und Kurator der Schau sagt. Soll heißen: Von Weitem sind es die Gemeinsamkeiten zwischen den Menschen, nicht die Unterschiede, die sichtbar sind.

Julia Oschatz: Fleißiges Arbeiterchen stellt Bestandteile einer Zelle her

Julia Oschatz interpretiert diesen Ansatz in „Dear Cella“ auf der wohl grundlegendsten Ebene. Was haben alle Menschen gemeinsam? Die Zelle als kleinste Einheit des Lebens. In ihren fünf Videosequenzen spielt sie, als fleißiges Arbeiterchen verkleidet, fiktive Arbeitsvorgänge in der Zelle nach, um fünf ihrer Bestandteile herzustellen. Zeichnungen und Miniaturen in der Installation beschreiben die Abläufe minutiös. Justin Hoffmann sieht darin eine lustige Absurdität, weil das Arbeiterchen immergleiche Prozesse nachspielt, die keinen Sinn zu ergeben scheinen und ulkig wirken, zum Beispiel, wenn es Tonfladen stempelt, indem es immer wieder mit dem Gesicht seine Pappmaske darauf drückt.

Julia Oschatz denkt sich in „Dear Cella“ Arbeitsvorgänge in menschlichen Zellen aus.
Julia Oschatz denkt sich in „Dear Cella“ Arbeitsvorgänge in menschlichen Zellen aus. © regios24 | Darius Simka

Lustige Absurdität, ja – aber irgendwie transportiert sich auch eine gewisse Tragik in der gewissenhaften Veranschaulichung von Lebensprozessen. So viel Energie wenden die Arbeiterchen auf, um das Leben möglich zu machen. Und all diese unentwegte Sisyphusarbeit bleibt vom Menschen am Ende doch unbemerkt, nicht wertgeschätzt und als selbstverständlich hingenommen, während er (oder sie) sich über viel unbedeutendere Dinge ärgert. Aber da ist eben auch die erwähnte meditative Ruhe, die der Installation innewohnt. Das Geklapper und Gelärme der Arbeiterchen in den Videos wird zum Klangteppich, und man kann das Gefühl bekommen: Ich brauche nichts weiter zu tun, das Leben kümmert sich um mich. Und um sich selbst.

Lisa Hoffmann im Kunstverein Wolfsburg: Ansichten von Naturkatastrophen

Mit größerer Dringlichkeit ist Lisa Hoffmann unterwegs. Ihre Installation „Atlas of the Essence“ besteht aus sechs auf Stoffbahnen gedruckten Bildern, für die die Künstlerin mehrere hundert bis tausend Fotos von Naturkatastrophen übereinander gelegt hat. Im Kunstverein werden Waldbrände in Kanada, das Erdbeben in Syrien aus dem letzten Jahr oder die Überflutung des Ahrtals gezeigt. Hoffmann hat dafür sowohl journalistische als auch Amateurfotografien, die in den sozialen Medien verbreitet wurden, genutzt.

Lisa Hoffmann zeigt die Essenz von Naturkatastrophen in „Atlas of the Essence.“
Lisa Hoffmann zeigt die Essenz von Naturkatastrophen in „Atlas of the Essence.“ © Wolfsburg | Darius Simka

Wer genauer hinschaut, kann einzelne Menschen erkennen, Bäume, Umrisse von Häusern, Brücken. Von weitem sieht man die Schönheit der Farben und Formen, die im krassen Kontrast zum dramatischen Inhalt der Bilder stehen. Die Künstlerin will die Ereignisse katalogisieren, um von dem subjektiven Blick auf ein Geschehnis, den ein einzelnes Foto wiedergibt, auf ein universelleres Bild zu kommen, das einer objektiven Wahrheit näher kommt. Im Ausstellungskontext verweisen die Werke auf gemeinsame Herausforderungen (wie den Klimawandel), denen sich die Menschheit stellen muss. Aber sie vereinen auch individuelle Sichtweisen und versuchen, daraus eine Essenz zu bilden.

Diese Essenz wirkt wie ein abstraktes Gemälde, unmittelbar in seiner Emotionalität. Gleichzeitig wohnt ihr eine Distanz zu den gezeigten Katastrophen selbst inne, weil der individuelle Blick verloren gegangen ist. Sanft wehen die Stoffbahnen im Wind, wenn man an ihnen vorbeigeht. Da ist sie wieder, diese eigentümliche Ruhe.

Sam Evans: Braunschweiger Künstlerin erzählt von Kindheit im Harz

Und die strahlt auch aus den Werken von Sam Evans. Die Braunschweiger Künstlerin zeigt Fotoarbeiten, in denen sie sich mit den Wäldern ihrer Kindheit im Harz auseinander setzt. Eines ihrer Fotos zeigt sie selbst, nackt, wie sie einem kleinen Mädchen die Hand reicht, mit einem Stapel Holz unterm Arm. Justin Hoffmann sieht darin auch die Vorstellung von einem indigenen Volk im Harz, etwas, das auf den gemeinsamen Ursprung der Menschheit verweist. Sam Evans selbst erzählt davon, wie sie sich viel mit ihrer eigenen Kindheit auseinandersetzt, in der jede Tour in den Wald ein Abenteuer war, „jede Scheibe ein Artefakt, jede Begegnung eine Sichtung.“ Das kleine Mädchen ist sie selbst, aus einer Familienfotografie in das neue Foto hinein montiert, dem ihr heutiges Ich die Hand reicht.

Fotografie aus Sam Evans‘ Werk „Meine kindliche Wälder“.
Fotografie aus Sam Evans‘ Werk „Meine kindliche Wälder“. © regios24 | Darius Simka

Die Künstlerin hinterfragt damit das Konzept von Wildnis und will erforschen, wie zugehörig der Mensch der Natur noch ist. Und wie zugehörig sie ihrer eigenen Heimat noch ist. Darum geht es auch in ihrer Videoinstallation „Zeckensommer“, für die sie die Orte ihrer Kindheit wieder aufgesucht hat, nach 20 Jahren Abwesenheit. „Es war eine Konfrontation“, sagt sie, „viele Orte haben sich verändert, manches ist noch da. Ich habe viel darüber nachgedacht, was die Veränderung mit mir macht; und wie stark die Macht der Nostalgie ist, durch die wir festhalten wollen, was uns dann doch entgleitet.“

Das Ergebnis ist ein fast romantischer, anrührender Film, aus dem die Sehnsucht nach einer tieferen Verbindung zur eigenen Identität und Geborgenheit im Vertrauten spricht. Die Sehnsucht bleibt aber ohne Erfüllung. „Ich habe keine Antwort gefunden auf meine Fragen“, sagt die Künstlerin über ihren Prozess, „aber irgendwie tat die Reise ganz gut.“

Erstaunliche Entwicklungen“: Die Gruppenausstellung ist bis zum 5. Mai im Kunstverein im Schloss Wolfsburg zu sehen. Die Öffnungszeiten sind auf der Webseite www.kunstverein-wolfsburg.de einsehbar.