Wolfsburg. „Wir brauchen Aktionen, die nicht gleichgültig hingenommen werden“ – Interview mit Politikaktivist Jörg Bergstedt über Verkehrswende-Proteste.

Sie seilen sich von Brücken ab, stoppen Autozüge: Auf der Bühne der VW-Hauptstadt führen seit einigen Jahren Verkehrswendeaktivisten ihre Protestaktionen auf. Bis Dienstag findet in Wolfsburg dasVerkehrswende-Camp statt. Mit dabei ist Jörg Bergstedt (58). Der Publizist ist ein Politaktivist in Vollzeit, seit er 14 Jahre alt ist. Er schult Aktivisten für juristische Auseinandersetzungen und ist Aktionsausbilder. Dienstag (16.45 Uhr) hält er im Camp einen Vortrag über „Provokante Aktionen und ihre Bedeutung für den politischen Protest“. Wir sprachen mit ihm über Protestthemen, -formen und -ziele, über Gruppen, Gegner und die Grünen.

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Herr Bergstedt, freut es Sie, dass sich nach Jahrzehnten Jugendliche wieder für Öko-Themen interessieren anstatt für Instagram und Konsum?

Letzteres tun sie ja trotzdem, aber Sie haben recht: Öko ist wieder in – und darüber freue ich mich in der Tat. Wobei ich mich selbst nicht nur auf Öko-Themen fixiere. Ich bin immer dort, wo ich den Eindruck habe, es lässt sich was durchsetzen. Das waren in meiner Jugend Öko-Themen und sind es heute wieder.

Wie ging das bei Ihnen los?

Beim Verkehrswende-Aktionstag am Sonntag in der Porschestraße informierte Jörg Bergstedt über die konkreten Forderungen für eine Verkehrswende in Wolfsburg.
Beim Verkehrswende-Aktionstag am Sonntag in der Porschestraße informierte Jörg Bergstedt über die konkreten Forderungen für eine Verkehrswende in Wolfsburg. © regios24 | Sebastian Priebe

Ganz klassisch mit Naturschutz: Hecken pflanzen, Bäche renaturieren. Die meisten Umweltverbände waren damals noch nicht gegründet und falls doch, habe ich davon in meiner Schleswig-Holsteiner Provinz nichts bekommen. Es gab keine Handys und kein Internet, um sich auch außerhalb unserer Städte zu organisieren. Wir waren auf uns allein gestellt und mussten selbst entscheiden, was wir machen wollten. Heute lache ich über manche Aktionen, die wir gemacht haben.

Warum?

Zum Beispiel in forstwirtschaftlich kaputtgemachten Wäldern, in denen es keine alten Bäume mehr gab, Nistkästen aufzuhängen. Das ist nichts anderes als Greenwashing. Heute würde ich dem Förster sagen: Pass mal auf, hier bleiben jetzt ein paar alte Bäume stehen, oder wir bekommen Ärger miteinander.

Wie kamen die Aktionen damals an?

Bei uns hatten sich fast alle Jugendlichen organisiert, und wir gingen den Erwachsenen auf den Keks. Wir dachten allerdings, Förster und Jäger wären unsere Verbündeten. Blauäugig sind wir deren Vorschlägen gefolgt, bis wir festgestellt haben, dass die uns verarschen. Denen ging es nur ums „weiter so“. Das ist heute nicht anders, wenn sich ein Verkehrsminister mit der „Letzten Generation“ trifft, die leider zu unpolitisch sind, um zu merken, was da passiert. So eine Umarmungsstrategie gab es in meiner Jugend nicht, da waren die Verhältnisse klarer: Wir waren die Feinde, die Politiker waren auf Krawall gebürstet.

Sie schulen Aktivisten. Wie lautet Ihr Ansatz?

Aktionen wie die der „Letzten Generation“ finde ich gut, aber zu begrenzt. Sie sollten nicht bei ihren wenigen großen Aktionen stehenbleiben. Ich befürworte, spektakuläre Kampagnen, die überregional Beachtung finden, mit konkreten starken Themen direkt vor Ort zu koppeln. In Gießen haben wir beispielsweise erreicht, dass die Hauptverkehrsstraße zur Fahrradzone gewandelt wird. Wolfsburg hat für uns den Vorteil, dass dort der Weltplayer VW ansässig ist. Andererseits macht es VW uns nicht einfach. Der Konzern reagiert sehr souverän auf Aktionen, anders als beispielsweise RWE beim Hambacher Forst. Das Wichtigste ist für uns, die Menschen vor Ort miteinander ins Gespräch zu bringen.

Wie gelingt das, wenn man sich von einer Autobahnbrücke abhängt?

Dort versuchen wir auch, mit den Autofahrern darunter zu kommunizieren oder Flugblätter zu verteilen. Ob uns das gelingt, hängt davon ab, wie gut die Polizei aufpasst.

Jörg Bergstedt, Verkehrswende-Aktivist
Jörg Bergstedt, Verkehrswende-Aktivist © Hendrik Rasehorn

Wie wichtig ist, dass Bürger von Aktionen mitbekommen?

Platte Militanz lehne ich ab, aber wir brauchen Aktionen, die nicht gleichgültig hingenommen werden. Im Zusammenhang mit der „Letzten Generation“ geht es immer nur ums Festkleben. Dabei haben sie Erdölleitungen abgedreht – was für grandiose Aktionen. Nur wird darüber kaum gesprochen. Aktionen müssen provozieren. Provokation darf jedoch nicht alles sein. Es bringt nichts, einen Erregungskorridor aufzubauen, und die Bürger*innen verstehen nicht, wofür. An der Stelle der „Letzten Generation“ würde ich versuchen, auf die zuzugehen, die durch ihre Aktionen betroffen sind, also beispielsweise Autofahrer*innen, um sie dafür zu gewinnen, für besseren ÖPNV, Fahrradstraßen und Barrierefreiheit zu kämpfen.

Warum wird sich immer wieder VW rausgepickt?

Gegen VW sprach der Diesel-Skandal und die Gefahr, dass unsere Forderungen fälschlicherweise verwechselt werden könnten mit einem schnelleren Produktionsumstieg aufs E-Auto. Entscheidend ist für uns, dass VW der größte deutsche Konzern ist und dass das VW-Gesetz eine faktische Waffengleichheit zwischen Kapital sowie Gewerkschaften und Land ermöglicht. Damit können wir drei Seiten adressieren – das sind zwei mehr als bei den meisten anderen Firmen. Und wir haben auch noch die Arbeiter*innen. Eine unserer Forderungen lautet, VW zu vergesellschaften. Die stellen wir nicht, um uns anzubiedern. Es ist ernst gemeint. Wir wollen, dass andere Entscheidungen getroffen werden als nur am Profit orientierte. Dafür muss sich die VW-Struktur ändern. Wir adressieren mit unseren Aktionen stark die Werker*innen. Die Reaktionen sind auch gar nicht so schlecht. Etliche machen bei uns mit. Unser Ziel lautet nicht, dass alle VW-Mitarbeiter*innen arbeitslos werden sollen.

Wie ist das Verhältnis zur IG Metall?

Die Gewerkschaft ist durch ihre starke Rolle im Betriebsrat Teil der Firmenleitung. Wenn sie es wollte, könnte eine Fertigungslinie für den Straßenbahnbau umgewidmet werden. Doch die IG Metall schweigt zu unseren Aktionen und Forderungen. Sie ziert sich, dass wir vor Mitgliedern reden. Vielleicht hofft sie, die Politik bekommt nichts hin und Verbrenner werden weiterhin gebaut, damit so viele Arbeitsplätze wie möglich unangetastet bleiben. Dabei bedeuten E-Autos das Aus für einen Großteil der Arbeitsplätze in der Produktion – das ist doch die schlechteste Variante von allen. Würde VW Straßenbahnen bauen, wäre das arbeitsintensiver und Teamarbeit, also auch bessere Arbeitsbedingungen.

Wie realistisch ist das denn, dass VW Trams entwickelt?

Skoda hat einst Straßenbahnen hergestellt, ehe das Unternehmen von VW gekauft wurde. Ich gebe ihnen recht, die Wahrscheinlichkeit ist sehr gering, weil die Entscheider nicht in der Lage sind, sich eine solche strategische Entscheidung vorstellen zu können. Der Bedarf für Straßenbahnen ist hoch, gebaut wird fast nur durch ausländische Konzerne, die Lieferzeiten sind dramatisch. Zudem lautet eine Forderung auch, dass Wolfsburg ein Straßenbahnnetz aufbaut. Die Umsetzung halte ich sogar für viel wahrscheinlicher, denn es lässt sich gut begründen, warum Straßenbahnen ein effizienteres Verkehrssystem sind als Busse. Schauen Sie sich den ZOB am Wolfsburger Nordkopf an – der ist nicht schön. Eine Straßenbahn wäre viel urbaner und bräuchte keinen Asphalt, es könnte alles viel grüner sein. Die Diskussion für den Neubau von Straßenbahn-Strecken wird noch in vielen Städten geführt werden. In Gießen wollen wir eine Machbarkeitsstudie auf den Weg bringen. Straßen werden sowieso alle 10, 20 Jahre saniert, dann könnte man das umsetzen. Baut Wolfsburg ein Straßenbahnnetz, könnte man dort anders als in Braunschweig gleich die richtige Spurbreite wählen und damit das Bahnnetz bis in die ganze Region befahren. Das ist also von uns ein ernst gemeinter Vorschlag und eine Chance für VW.

Die Grünen sind Teil der Bundesregierung und haben sich die ökologische Modernisierung der Wirtschaft auf die Fahne geschrieben. Ist die Partei ein Partner?

Wir haben die besondere Hoffnung in die Grünen vollständig aufgegeben. Ich bin lange genug dabei und habe alle diese Biografien gesehen. Die Führungsoffizier*innen der Grünen haben ihre Ideale nicht verraten. Sie hatten niemals welche. Sie kamen dazu, als es Machtposten zu verteilen gab. Mit ihrer Forderung nach mehr E-Autos stehen die Grünen uns nicht näher als die anderen Parteien. Provokant ausgedrückt: Es ist uns vollkommen egal, welche Regierung unter uns am Werk ist. Wir müssen stark werden. Beim Thema Gentechnik haben wir das vorgemacht. Dort war der Widerstand am Ende so groß, dass Politiker, ausgewiesene Freunde der Großindustrie, sagten: Ich war schon immer gegen Gentechnik – was natürlich glatt gelogen war.

Also ohne Politik geht es nicht?

Das ist der Punkt: Wir müssen es hinbekommen, dass Bürgermeister*innen oder Minister*innen, egal ob die von der CDU oder von den Grünen kommen, unsere Forderungen zu ihren Projekten machen. Dann ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass es funktioniert.

Was ist entscheidender: Druck auszuüben oder zu überzeugen?

Bei Politiker*innen hilft nur Druck, sie handeln nie aus Überzeugungen und werden, wenn der Druck von der anderen Seite zu groß ist, immer gegen ihre eigenen Überzeugungen handeln. Wir müssen aber auch überzeugen. In Gießen wollen wir auch eine Machbarkeitsstudie für eine Straßenbahn erwirken. Dort führen wir Gespräche mit der Uni, mit dem Einzelhandel oder mit dem Fußballclub. Wenn wir diesen großen Verkehrserzeugern unsere Idee erklären, checken die sofort, wie die für sie nützlich sein kann. Das ist Überzeugung – und das erhöht wiederum den Druck auf Politiker*innen. Generell müssen unterschiedliche Menschen auf unterschiedliche Weise angesprochen werden. Es gibt bei uns Leute, die auf der Straße mit den Bürger*innen reden, es gibt Leute, die eine softe „Critical Mass“-Fahrradtour als Familienausflug umsetzen und es wird auch Leute geben, die sagen, irgendwann mal wird was bei VW kaputtgehen.

Vor welchen Fehlern warnen Sie junge Aktivisten?

Bei „Fridays for Future“ oder der „Letzten Generation“ laufen mittlerweile auch viele Eltern beziehungsweise Ältere mit. Das ist nicht unproblematisch. Daraus entsteht keine ausreichend skeptische Distanz zu der Erwachsenenwelt. Diese Gruppen sollten vorsichtiger sein hinsichtlich von Einlull-Versuchen und der Umarmungsstrategie. Ich finde es schlimm, wenn auf den Demos von „Friday for Future“ die Architekten des Desasters auftreten. Außerdem warne ich davor, wenn Bewegungen plötzlich viel Geld über Spenden einnehmen, es Hauptamtliche gibt, Aktionen sich nur noch auf die Hauptstadt konzentrieren. Die Bewegungen werden damit immer selbstreferenzieller. Wichtiger ist, dass Menschen lernen, sich lokal selbst zu organisieren. Daran haben die großen Organisationen jedoch kein Interesse, die wollen Aktion lieber zentral führen und die Mitglieder dafür ein bisschen dumm halten.

Wird es rund ums Verkehrswende-Camp in Wolfsburg Aktionen geben?

Unser Aktionskonzept ist, eine Plattform zu bieten, wo Menschen hinkommen und ihr eigenes Ding machen können. Dafür biete ich im Camp auch einen Workshop an. Ob Menschen kommen, die eine Aktion umzusetzen wollen, die ein bisschen mehr stört, würde ich selbst vielleicht erst mitbekommen, wenn die stattfindet...

...Vielleicht am Mittwoch auf der VW-Hauptversammlung in Berlin?

Die ist optimal mit dem Zug erreichbar. Ich habe mitbekommen, dass in Berlin von Gruppen mobilisiert wird. Optimal wäre eine provokante Aktion, die in der Stadt präsent ist, über die die Medien berichten und über die sich die Aktionär*innen unterhalten.

Was raten Sie VW? Die Forderungen ernst nehmen und mit ihnen reden?

Man kann unsere Argumente wie den Bau von Straßenbahnen bescheuert finden. Hohl sind die Vorschläge nicht. Wir sind nicht nur Ökos, wir reden nicht nur übers Klima, sondern wir denken auch Transformation mit. VW kann natürlich stur weitermachen, um maximale Gewinne bis zum Untergang des Standorts einzufahren. Oder VW sagt sich, man muss neue Bühnen betreten – dann aber kein PR-Projekt wie das E-Cargo-Bike, das nicht zur Größe des Konzerns passte und ein wenig albern wirkte. Der Straßenbahnbau wäre eine Produktionsentscheidung.
Entscheidend ist gar nicht, dass sich VW mit uns bespricht. VW muss sich intern dazu entscheiden, eine Machbarkeitsstudie in Auftrag zu geben, welche Produkte noch möglich sind.