Braunschweig. Ein leidenschaftliches Ensemble bringt den Broadway-Hit berührend auf die Bühne. Dafür gibt es stehende Ovationen im ausverkauften Großen Haus.

Die erste Szene im Musical „Annie“ geht gleich nahe. Ein Waisenkind ruft nachts nach seiner Mutter. Ein Mädchen nimmt es beruhigend in den Arm. „Wir sind mit der Fähre gefahren“, erfährt es. „Meine Mama hat mich hochgehalten, damit ich all die großen Schiffe sehen konnte. Dann hat sie gewinkt, und ich konnte sie nicht wiederfinden.“

Ein Traum. Annie (Emi Aalto), die Tröstende, erzählt daraufhin über sich. Sie trägt ein Medaillon, ein halbes Herz mit einem Zettel. Ihre ihr unbekannte Mutter verspricht: Irgendwann holen wir dich ab. Dann bringen wir die zweite Herzhälfte mit. Die anderen im Saal, nun alle wach, sprechen den Text spöttisch mit. Elf Jahre geht das jetzt schon so. Aber Annie ist unbeirrbar optimistisch. Und singt mit heller Stimme eine eingängige Ballade: „Einmal irgendwann, vielleicht sogar schon bald...“

Die Waisenkinder-Gang stampft ihren Frust heraus

„Annie“, das 1933 zur Zeit der Weltwirtschaftskrise spielt, feierte 1977 am Broadway in New York Premiere. Die Produktion gewann sieben Tony Awards (der amerikanische Musical-Oscar), einen davon als bestes Musical. Seitdem ist es in den USA fester Bestandteil der Popkultur. Der bekannteste Song, „Hard Knock Life“, wurde in der Version von Jay-Z ein internationaler Hit. Im ausverkauften Großen Haus des Staatstheaters war am Samstag die deutsche Fassung zu erleben, gekürzt auf 80 Minuten – fast komplett besetzt mit jungen Menschen: mit Akteuren des Kinder- und Jugendchors Belcanto und einem Projektorchester der städtischen Musikschule unter der musikalischen Gesamtleitung von Mik Garling.

„Hard Knock Life“ heißt in der deutschen Fassung: „Dieses Leben stinkt für uns“. Denn der Alltag im Waisenhaus ist trist. Leiterin Miss Hannigan gewinnt ihre Lebensfreude aus dem Befehlen und Schinden. Alyona Swinzizki spielt sie amüsant exzentrisch, mit Trillerpfeife und schrillen Stimmausbrüchen. Die Waisenkinder-Gang lässt den Frust beim Bodenschrubben raus. Singt kraftvoll, stampft den Rhythmus mit, wedelt mit Besen. Zwei schlagen Rad. Irgendwo muss die Energie hin. In den Dialogen dominiert Galgenhumor.

Ein Milliardär entdeckt sein Herz

Annie und der Milliardär Oliver Warbucks – da finden sich zwei.
Annie und der Milliardär Oliver Warbucks – da finden sich zwei. © Björn Hickmann/ stage picture

Für Annie indes gibt es nach einer misslungenen Flucht einen Lichtblick. Milliardär Oliver Warbucks lädt im Rahmen eines Charity-Projektes einen Waisen ein, zwei Wochen bei ihm zu leben. Seine Assistentin entscheidet sich für Annie. Und so steht der kleine Lockenkopf bald in einer Villa. Zwölf Bedienstete warten auf Instruktionen. Als Warbucks von einer Geschäftsreise zurückkehrt, nimmt er den neuen Gast zunächst gar nicht wahr. Maximilian Mienkina stellt ihn aber nicht kaltherzig dar. Er ist hart im Business, aber zu Hause erlebt man ihn umgänglich. Seinen Hut setzt er auf eine Büste. Das Personal wirkt entspannt. Bei Annie ist er bald empathisch. Er erzählt über seine Einsamkeit und singt mit warmer Stimme: „Doch irgendwas fehlte, ich fühlte mich leer.“ So ist es nicht völlig hergeholt, dass er anbietet, sie zu adoptieren.

Die gestraffte Fassung unter Regie von Markus Schneider erzählt zügig, dabei allerdings recht schmucklos. Einprägsame Details und markante Charakterisierungen kommen etwas kurz. Der originelle Hund hätte auch mehr Aufmerksamkeit verdient. Mit dem Streuner freundet sich Annie auf ihrer Flucht an. Im Finale taucht er wieder auf, aber beiläufig. Ein Mädchen mit Zöpfen verkörpert ihn drollig.

Was Jörg Wesemüller vom Jungen Staatstheater verspricht

Die Choreografien in Markus Schneiders Inszenierung von „Annie“ reißen mit.
Die Choreografien in Markus Schneiders Inszenierung von „Annie“ reißen mit. © Björn Hickmann/ stage picture | Björn Hickmann/ stage picture

Die Erlebnisdichte ist auf jeden Fall hoch. Als Annie von ihrer großen Sehnsucht berichtet, ihre Eltern zu finden, lockt der Milliardär im Radio mit 50.000 Dollar Belohnung. Das ruft den Bruder der Heimleiterin auf den Plan. Er plant, sich mit Freundin als Eltern auszugeben. Ob das gelingt? Oder tauchen etwa die echten Eltern auf?

Für die engagierte Darstellung, die stilvollen Kostüme von Gretl Kautz, die vielseitigen Choreographien und die begeisternde Orchestermusik spendete das Premierenpublikum immer wieder Zwischenapplaus – und zum Schluss stehende Ovationen. Jörg Wesemüller, Leiter der Sparte Junges Staatstheater, kündigte bei der Premierenfeier an: „So ein tolles Musical machen wir jetzt alle zwei Jahre.“

Noch einmal am 1. Mai, 16 Uhr, 2. Mai, 9 Uhr, und am 6. Mai, 18 Uhr, Großes Haus.

Das könnte Sie auch interessieren:

http://Kiosk_eröffnet_im_Braunschweiger_Staatstheater{esc#238182933}[news]

http://Braunschweiger_Jugend_bringt_ihr_Unwohlsein_auf_die_Bühne{esc#238147047}[news]

http://Die_Frau,_die_das_Braunschweiger_Schloss_abfackelt{esc#238094751}[news]