Braunschweig. Die große Täuschung mit Heinrich dem Löwen im Braunschweiger Dom – oder war es doch nur ein Irrtum?

Eigentlich sollte der Streit mit diesem Vortrag im vollbesetzten Braunschweiger Dom mit einem „öffentlichkeitswirksamen Schlusspunkt“ ultimativ beendet werden, doch jetzt könnte er tatsächlich wieder anfangen.

Hat der Nazi-Ministerpräsident Dietrich Klagges seinen „Führer“ Adolf Hitler mit einer groß angelegten Täuschungsaktion dazu bringen wollen, mit Heinrich dem Löwen gewissermaßen als Galionsfigur Braunschweig aus dem Parteigau Südhannover-Braunschweig herauszulösen und durch die Hinzufügung umliegender Gebiete zu einem Parteigau Ostfalen mit Braunschweig als Gauhauptstadt aufzuwerten?

Enormes Interesse an Ulrich Menzels Vortrag im Braunschweiger Dom

Dies legt der Historiker Professor Ulrich Menzel dar, dessen Vortrag im Braunschweiger Dom auf ein enormes Interesse stieß.

Hintergrund ist die durch Klagges 1935 veranlasste Öffnung der Gruft im Braunschweiger Dom. Die unter strenger Geheimhaltung erfolgende Grabung brachte nur ein enttäuschendes Ergebnis. Statt zweier Steinsärge wurde nur einer gefunden, der das zierliche und dazu noch verkrüppelte Skelett einer Frau enthielt, also Heinrichs Ehefrau Mathilde hätte zugeordnet werden müssen.

Menzel: „Deshalb wurde mit großem gutachterlichem Aufwand behauptet, es handle sich um Heinrich, und die Verkrüppelung sei durch einen Reitunfall verursacht worden.“

Kalkül demnach des Braunschweiger Ober-Nazis Klagges: Mit dem Fund der Gebeine des Sachsenherzogs könne man Heinrich den Löwen mit seiner Ostkolonisation zum Vorreiter der „Gewinnung von Lebensraum im Osten“ aufbauen – und damit Braunschweig politisch aufwerten.

Doch Hitler hatte, wie Menzel berichtet, ohnehin andere Vorstellungen und Vorbilder: „Sein Held war Barbarossa und Heinrich nur ein Rebell, der sich gegen den Kaiser aufgelehnt hatte.“ Der Plan scheiterte, aber die Legende hielt sich hartnäckig und lange: War Heinrich der Löwe klein und verkrüppelt?

Zweifelsfrei steht fest: Die gefundenen Gebeine im Braunschweiger Dom gehörten einer Frau

Es gibt mittlerweile keinen Zweifel mehr daran, dass die aufgefundenen Gebeine im Braunschweiger Dom einer Frau gehörten und deshalb Mathilde zugeordnet werden müssen. Daran hegt auch die namhafte Braunschweiger Anthropologin Dr. Angelika Burkhardt keinen Zweifel, die sich jetzt mit einer umfänglichen Stellungnahme an die Redaktion wandte.

Sie glaubt nicht an die großangelegte Täuschung, die Menzel nahelegt, sondern spricht aus ihrer eigenen Expertise heraus von ihrer Überzeugung, fachliche Inkompetenz der Untersuchungen von 1935 könne tatsächlich zu der Fehlannahme geführt haben. Es habe sich demnach eher um einen großen Irrtum gehandelt.

Denn so einfach, wie Menzel es darlege, sei es tatsächlich gar nicht, quasi vom bloßen Augenschein das Geschlecht von Knochenfunden zu bestimmen. Angelika Burkhardt hält es für eher ausgeschlossen, dass es allen, die damals enttäuscht in den geöffneten Steinsarg blickten, sofort klar war, „auf eine ,verkrüppelte’ Frau, nämlich Mathilde, gestoßen zu sein“.

Burkhardt schreibt: „Wahrscheinlicher als das von Menzel postulierte Komplott ist, dass man keine Ahnung hatte, wie der Fund einzuordnen sei und das tat, was bei Skelettfunden in Kooperation mit Archäologen üblich ist: ein Gutachten durch einen Anthropologen anfordern.“

In diesem Fall sollte damals kein Geringerer als der Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts Berlin, Professor Eugen Fischer, als Gutachter fungieren. Ein Rassen-Fanatiker und Nazi-Karrierist, der sich auf dem berüchtigten Gebiet der nationalsozialistischen „Rassenhygiene“ einen prominenten Namen gemacht hatte, aber sich in diesem Fall als Gutachter als völlig ungeeignet erwiesen habe, so Burkhardt. Ein Ahnungsloser mithin in der notwendigen Osteo-anthropologischen Expertise.

Menzels Kritikerin ist definitiv vom Fach, war seit den späten 1970-er Jahren bis 2000 am Fachgebiet Anthropologie der TU Braunschweig tätig, arbeitete danach als freiberufliche Anthropologin in den Bereichen Osteo-Anthropologie und Paläopathologie. „Bis zu seiner Pensionierung habe ich für Professor Hartmut Rötting (Bezirksarchäologe) bei Skelettfunden anthropologische Gutachten erstellt“, schreibt sie.

Sie sei auch 1978 bei der Öffnung der Kaisergräber in Königslutter anwesend gewesen, habe die Skelette für ihre Staatsexamensarbeit untersucht.

Vorsätzliches Komplott oder Irrtum?, lautet jetzt die Frage

Lebt nun die „Provinzposse“ also wieder auf, von der BZ-Kulturredakteur Martin Jasper bereits im März 2021 schrieb? Damals hatte Ulrich Menzel sein Buch „Zwischen Deutschen Christen und Neuen Heiden“ vorgelegt. Darin legt Menzel ausführlich und fachlich dicht die Dekonstruktion einer Legende dar.

Martin Jasper erinnerte daran, wie die Braunschweiger Zeitung noch 1971 titelte: „Der Löwe war kein Recke – Heinrich litt seit Geburt an einer Hüftverrenkung“. Und auch er selbst müsse gestehen, so Jasper: „Als ich in den 1980-er Jahren hierher kam, schnappte ich irgendwo auf, der Herzog sei ein kleiner Mann gewesen, der hinkte, weil er mal vom Pferd gefallen war.“

Aber darum geht es bei neuerlichen Kontroverse auch gar nicht mehr. Vorsätzliche Täuschung oder Irrtum?, lautet jetzt die Frage. Und der Autor dieser Zeilen möchte – selbst gänzlich ohne Expertise im Osteo-anthropologischen Fach – noch hinzufügen: Es kann sicherlich nicht ausgeschlossen werden und ist auch nicht ganz unwahrscheinlich, dass den 1935 Handelnden jede Erklärung zupass kam, wie auch immer, was auch immer. Hauptsache, Heinrich ...

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