Braunschweig. Beim Raffteich-Open-Air in Braunschweig hängt sich Wincent Weiss voll rein. So lief das Konzert.

Ja gut, das sieht man nicht alle Tage: Ein Popsänger, der nach einer Choreographie noch einen zehnsekündigen Handstand macht, das ist etwas Besonderes. Später steht Wincent Weiss bei seinem Open-Air-Konzert auf der Volksbank BraWo Bühne auf dem Keyboard und eröffnet einen Song mit einem Rückwärtssalto. Den Schluss von „Weck mich nicht auf“ singt er – nach diversen Feuerfontänen – in einer Lederjacke, deren Ärmel brennen. Kurzum: Der 29-Jährige hängt sich am Donnerstag voll rein – bis hin zu einem kleinen Feuerwerk bei der dritten Zugabe.

Drei Stunden vor Showbeginn meldet sich Weiss, von dem es auch eine Wachsfigur bei Madame Tussauds Berlin gibt, schon mal bei Instagram. In seiner Story steht er oberkörperfrei mit Handtuch neben den Sprungtürmen des Raffteichbads. Und kommentiert: „Das ist mal ein Backstage.“ Nach zweijähriger Corona-Zwangspause ist das Festivalgelände am Freibad endlich wieder spielbereit, inklusive vieler Snackbuden mit einer Auswahl von Poffertjes bis zu ungarischen Spezialitäten. Rund 5500 Zuschauer sind beim ersten von insgesamt vier Konzerten dabei. Schwerpunkt: junge Frauen. Nicht wenige tragen Weiss-Shirts, -Mützen und Leinenbeutel mit einer Textzeile seiner ersten, 2015 erschienenen Single „Regenbogen“: „Bis wir die Farben wieder sehen und der Regen einen Bogen macht.“ Ein Mädchen hat schon vor dem Konzert ein Weiss-Puzzle gekauft. 1000 Teile.

Wincent Weiss beginnt das Raffteich-Konzert a cappella

Vielleicht stellt es sich ja später auf den Karton, um alles zu sehen. Denn es zeigt sich bald: Wincent Weiss verschwindet öfter mal im Publikum. Er verlässt nicht nur den Steg, sondern klettert auch über die Absperrung. Leider gibt es keine Leinwände, die zeigen, was in der Menge passiert. Aber er kommt immer bepackt zurück, mal mit einem Blumenstrauß, mal mit einem gemalten Bild der sechsjährigen Luisa. Er ist bereit für Selfies und kommentiert Plakate: „Jule wird heute 21? Dann singen wir jetzt alle Happy Birthday.“ Publikumsnähe und Spontanität bei den Ansagen: Auch das ist ein besonderer Reiz der 90-minütigen Show.

Lesen Sie mehr Kultur-News aus der Region Braunschweig-Wolfsburg:

Das Konzert beginnt überraschend a cappella, mit „Musik sein“. In einem seiner größten Hits greift Weiss, auch bekannt als Juror bei „The Voice Kids“, einen Kult-Monolog aus dem Film „Absolute Giganten“ auf. „Ey, da müsste Musik sein, überall wo du bist. Und wenn es am schönsten ist, spiel es wieder und wieder“ heißt es bei ihm. Dann setzt Musik ein. Schnipsel und Papierschlangen regnen.

Weiss schätzt Bands wie System of a Down und Linkin Park

Drei eingängige, positive Hymnen folgen: über einen Freund, den man schon ewig kennt und bei dem man sich immer wohlfühlt; über die Vorfreude auf das kommende Leben mit der Freundin und darüber, den Moment zu genießen: „Die guten Zeiten, die sind jetzt.“ Entspannter Wohlfühl-Pop für alle, die das Gewöhnliche lieben – die Texte sehr allgemein und unkonkret, denkt man. Doch dann stehen vor dir drei Mädchen, die euphorisch mitsingen und Texte mit Gesten begleiten; überall strahlende, feiernde junge Leute und fröhliche Familien mit Kindern auf den Schultern, und das Urteil relativiert sich.

Und dann gibt es auch immer wieder mal originelle Formulierungen, über die man sich freut. Etwa: „Wo die Liebe hinfällt, da lass ich sie liegen“ – in einem packenden Rocksong über die Angst vor Nähe und die Flucht vor einer festen Beziehung. Rock, gesungen mit tiefer, rauer Stimme, passt gut zu Wincent Weiss, der eher aus der Metal-Szene kommt und als Skater Bands wie System of a Down und Linkin Park schätzte. Einprägsam ist auch der Text der Ballade „Endlich leichter“ über langsam verebbenden Liebeskummer: „Es wird endlich leichter, dich lachen zu sehen.“ „1993“ derweil ist ein berührender Song über das Aufwachsen ohne Vater. Schlusssätze: „Ich habe eines von dir gelernt, das gebe ich gerne zu. Wenn ich mal Vater werde, werde ich nie so sein wie du.“

Wincent Weiss: Früher war er Männer-Model

Ein Abend mit vielen Temperamenten, auch mit einem Song über seine Depression. Eine Jugendzeitschrift berichtete, dass er zur Therapie gehe, sei ein peinliches Geständnis, erzählt er. „Und ich denke mir so: Wie könnt ihr jungen Lesern sagen, dass es etwas Peinliches ist, zum Arzt zu gehen und sich helfen zu lassen? Reden ist das Beste, was man machen kann, anstatt Dinge in sich hineinzufressen.“

Wincent Weiss, der früher als Männer-Model unter Vertrag war und als Filialleiter eines Münchner Restaurants arbeitete, erzählt auch über einen gerade abgeschlossenen Umzug und seine Schwester, die nun 18 Jahre alt und ständig unterwegs ist. Ihr hat er den Song „Nur ein Herzschlag entfernt“ gewidmet, der in einer Akustikversion präsentiert wird. Ein ereignisreiches Konzert. Ein mitreißender Abend. Wincent Weiss wird bis zum Schluss gefeiert, als zum Hit „Feuerwerk“ die Raketen zünden.