Braunschweig. Wie Reformatoren, Bürger, Aufklärer, Herzöge und Arbeiter unsere Heimat in den vergangenen 500 Jahren verändert haben.

Mit Martin Luther, Worms, Wartburg, Eisleben oder Wittenberg verbindet man hauptsächlich Persönlichkeiten und Orte der Reformation. Kaum jemand kennt noch Johannes Bugenhagen, Gottschalk Kruse oder Heinrich Lampe. Doch ohne deren Wirken wäre der Braunschweiger Ratsbeschluss vom 5. September 1528 kaum denkbar, mit dem offiziell in der Stadt Braunschweig die Reformation eingeführt wurde.

Es war ein mutiger Schritt gegen die Religionspolitik von Herzog und Kaiser in einer Epoche der großen Umbrüche. In den Städten wurden jene Impulse, die von Wittenberg und Luther ausgingen, besonders rasch und begeistert aufgegriffen. Der Anstoß zur Reformation in den Städten kam meist von unten – von Gilden, „Gemeinheiten“ oder dem einfachen Klerus – denn es ging nicht zuletzt um verbesserte Teilhabe am politischen Tagesgeschäft.

Die Anhänger der neuen Lehre lassen sich in einen vorreformatorischen Sympathisantenkreis fassen, zu dem etwa der junge Priester Thomas Müntzer oder der Erfurter Humanist Euricius Cordus, als Stadtarzt in Braunschweig tätig, zählten. Cordus schrieb am

24. Juni 1524 in einem Brief an seinen Freund Lange, den Reformator Erfurts: „Geächtet und verprügelt werden, die in dieser Sache auch nur den Mund auftun.“ Enttäuscht darüber, wie wenig das Evangelium bei den Braunschweigern galt und wie wenig sie den ärztlichen Rat, auf Alkohol zu verzichten, befolgten, meinte er: „Man muss den Braunschweigern das Evangelium und ihre Medizin heimlich beim Brauen in ihre Frühlingsmumme mischen“.

Am Tag vor Himmelfahrt, am 20. Mai 1528, traf Johannes Bugenhagen in Braunschweig ein, der schon am 5. September 1528 die neue Braunschweiger Kirchenordnung vorlegte. Als Besonderheit gilt, dass es auch „die Ordnung … des Rates und der ganzen Gemeinde in Braunschweig“ war. Ein Ratsbeschluss also führte die Reformation in der Stadt ein – und zwar gegen den erklärten Willen des Landesherrn.

Kampf um den wahren Glauben

Im Kampf um die Reformation in Norddeutschland kam der Stadt Braunschweig gegen die Welfen besondere Bedeutung zu. Der sogenannte Schmalkaldische Bund, ein Bündnis der protestantischen Fürsten, hielt 1538 eine Tagung in ihrer Mitgliedsstadt Braunschweig ab. Sieben Jahre später nahmen schmalkaldische Truppen den altgläubigen Herzog Heinrich den Jüngeren, der als „der bestgehasste und meist verleumdete Fürst in den evangelischen Landen“ verrufen war, gefangen. Die Auseinandersetzung kulminierte am 9. Juli 1553 in der legendären Schlacht bei Sievershausen: Die blutigste Schlacht des 16. Jahrhunderts auf deutschem Boden endete mit der Niederlage der städtischen Söldner, forderte jedoch zugleich das Leben der beiden ältesten Söhne des Herzogs, so dass dessen ungeliebter Sohn Julius Thronfolger wurde. Dieser führte 1568 endgültig die Reformation im gesamten Land Braunschweig ein.

Ausgeträumt – das Jahr 1671

Das herausragende politische Ereignis im 17. Jahrhundert im Braunschweigischen war eine Folge des wirtschaftlichen Niedergangs der Stadt und der wachsenden Macht der Fürsten. Die Hanse verlor ihre Wirkmächtigkeit und Braunschweig seine weitgehende Autonomie. Der Absolutismus bestimmte die Epoche – und Herzog Rudolf August nahm 1671 die Stadt ein.

Damit schien ein politischer Tiefpunkt erreicht zu sein, tatsächlich aber setzte eine wirtschaftliche Wende ein und die Politik der Herzöge sollte sich positiv auswirken. Zwei Warenmessen förderten ab 1681 Handel und Gewerbe, zumal Braunschweig nach Frankfurt und neben Leipzig zum größten Messeplatz im Deutschen Reich expandierte. Wirtschaft und Kultur wurden im 18. Jahrhundert entscheidende Säulen des Wandels von der Bürger- zur Residenzstadt.

Vernunft und Fortschrittsoptimismus

Es war besonders der seit 1735 regierende Herzog Carl I., der in vielfältiger Weise die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Förderung seiner neuen Residenz betrieb. Höhepunkt wurde 1745 die Gründung des Collegium Carolinum – der heutigen Technischen Universität – auf Anraten von Abt Friedrich Wilhelm Jerusalem.

Besondere Förderung erfuhren die Aufklärungsgesellschaft und die Stadt Braunschweig auch durch Herzog Carl Wilhelm Ferdinand. Er unterstützte Carl Friedrich Gauß, förderte Louis Spohr, stellte Gotthold Ephraim Lessing als Herzoglichen Bibliothekar ein und gewann die Verleger Joachim Heinrich Campe und Friedrich Vieweg für Braunschweig. Die Stadt wurde schnell zum städtischen Zentrum der Aufklärung in Niedersachsen.

Die Regierungszeit Carl Wilhelm Ferdinands war zweifellos eine der wichtigsten Epochen der Stadtgeschichte. Bis zur Auseinandersetzung mit Napoleon nahm der braunschweigische Herzog auch eine führende Rolle in der europäischen Politik wahr.

Ein Land geht verloren –

und findet sich wieder

Die Jahre von 1806 bis 1813 wurden durch die französische Besetzung und den Verlust der Eigenständigkeit zur ernsten Episode. Braunschweig gehörte nun zum Königreich Westphalen. Steuerlasten, Einquartierungen, Bespitzelungen und Zwangsrekrutierungen für das französische Heer belasteten die Bevölkerung – und bald regte sich Widerstand. Als der „Herzog ohne Land“, Friedrich Wilhelm, 1809 mit seiner Freischar in Braunschweig eintraf, erreichte die vaterländische Begeisterung einen ersten Höhepunkt. Schon zu Lebzeiten wurde der „Schwarze Herzog“ zur Legende, weit über Braunschweig hinaus.

Sein Tod am 16. Juni 1815 bei Quatrebras im Freiheitskampf gegen Napoleon beflügelte einen pro-braunschweigischen Patriotismus, den einige Jahre zuvor der Verleger, Schulreformer, Philanthrop und Sprachforscher Joachim Heinrich Campe vorbereitet hatte: „Ich schätze mich nach allem, was ich im Auslande gesehen und bemerkt habe, recht sehr glücklich, ein Deutscher, und zwar ein Braunschweigischer Deutscher zu sein“, denn „nur zu Braunschweig lebt man frei und glücklich“. Damit beschreibt er jene braunschweigische Identität, die eher einem Lebensgefühl entsprach, als einer gesellschaftlich-politischen Konstruktion – eine weitere Besonderheit Braunschweigs.

Revolution, die keine sein durfte

Auf dem Wiener Kongress 1815 wurde das Herzogtum Braunschweig wiederbegründet. Doch der Neuanfang wurde schwierig: Wirtschaftliche Einbußen, Rückschläge im Messehandel, soziale Not durch wachsende Arbeitslosigkeit, Teuerung, Missernten und ein absolutistisches Willkürregiment führten zur Vertreibung von Herzog Karl II. und zur Plünderung des brennenden Residenzschlosses am 7. September 1830. Es war eine Revolution, die keine sein sollte, um im Interesse des Landes ein Eingreifen der Mächte des Deutschen Bundes zu verhindern.

Nachfolger wurde Karls jüngerer Bruder Wilhelm, der länger als 50 Jahre regierte. Die Stadt Braunschweig erhielt 1834 echte Selbstverwaltung. Weitere liberale Reformen wie das neue Staatsgrundgesetz 1832 oder die Bauernbefreiung 1834 bestimmten die Vormärzzeit und führten in eine Epoche der Beschleunigung und des rasanten Wandels.

Mobilität und Beschleunigung

Entscheidend für den Übergang von Stadt und Land Braunschweig in die Epoche der Industrialisierung war das Jahr 1838 mit dem Betriebsbeginn der Ersten Deutschen Staatseisenbahn. Die neue Mobilität, neue Fabrikzweige, intensive Landwirtschaft, Zuckerrübenanbau und damit einhergehender Maschinenbau wurden Kennzeichen der ersten Industrialisierungsphase.

Eine geradezu explosionsartige Entwicklung erlebte Braunschweig nach 1871 in allen Bereichen des öffentlichen Lebens. Von 1850 bis 1880 stieg die Einwohnerzahl von 39 000 auf 75 000, bereits 1890 wurde die Zahl von 100 000 Einwohnern überschritten. Braunschweig war Großstadt.

Diese rasanten Entwicklungen im 19. Jahrhundert verschärften die sozialen Probleme in Stadt und Land: Wohnungsnot, Niedriglohnpolitik und Arbeitslosigkeit waren bestimmende Probleme, gegen die zunehmend die entstehende Sozialdemokratie unter Führung von Wilhelm Bracke kämpfte. Nach der Gründung der SPD 1869 befand sich durch Brackes Engagement die Geschäftsstelle der neuen Partei in den Anfangsjahren in Braunschweig, das zu einer Hochburg der Sozialdemokratie werden sollte.

Braunschweig war zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wirtschaftlich, politisch und kulturell auf einem guten Wege, jäh gestoppt durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Kurz zuvor sonnte man sich noch einmal im „Glanz der Krone“, als durch die Heirat der Kaisertochter Victoria Luise mit dem Welfenprinzen Ernst August erstmals wieder seit 1884 ein Mitglied des Welfenhauses als Herzog in Braunschweig residieren konnte. Nur kurz dauerte dessen Regiment, denn mit der Revolution vom November 1918 und der durch den Arbeiter- und Soldatenrat unter Führung von August Merges erzwungenen Abdankung endete die Zeit der welfischen Monarchie.

Das Herzogtum Braunschweig hatte aufgehört zu existieren. Zumindest hoffnungsfrohe Ansätze eines Neubeginns gab es nach dem Schrecken des Ersten Weltkrieges – und kaum jemand erwartete, dass es noch schlimmer kommen konnte.

Aber es kam noch schlimmer, früher und gewalttätiger als im übrigen Reich. Die Nationalsozialisten erklärten die historische Welfengestalt Heinrichs des Löwen zum „Vorkämpfer“ einer Politik, die „Lebensraum im Osten“ eroberte. Damit bereitete man ideologisch vor, was zum Bombenkrieg und zum Inferno der Nacht vom 14. auf den 15. Oktober 1944 führte. Insgesamt sind in den Bombenangriffen auf die Stadt Braunschweig fast 3000 Menschen ums Leben gekommen. 90 Prozent der Innenstadt wurden zerstört, das historische Braunschweig ging weitgehend verloren.

Ein Staat verfällt der Geschichte

Nach dem Ende der Nazidiktatur und einer letzten Konsolidierungsphase des noch selbständigen Landes wurde Braunschweig am 1. November 1946 Teil des neu geschaffenen Landes Niedersachsen mit der Kräftekonzentration auf Hannover, der neuen Landeshauptstadt.

Braunschweig musste sich mit der neuen Rolle vertraut machen, nicht mehr Landeshauptstadt und dennoch für die Region ein Oberzentrum mit Vorbildcharakter zu sein. Die Stadt hat diesen Weg gemeistert, hat sich zu einer sympathischen Großstadt entwickelt, die zwischen Forschung, Technologie und historischer Tradition einen Weg beschritt, der ihr ein prägendes Profil als führende europäische Forschungsregion gab.

Nach dem Fall der innerdeutschen Grenze liegen Stadt und Region wieder mitten in Deutschland – eine Gegend, in der es sich zu leben und die es stets neu zu entdecken lohnt. Unsere Region muss allerdings dringend lernen, für eine nachhaltige Zukunft und positive Fortentwicklung im großen regionalen Rahmen zu denken und zu handeln und dabei endlich das kleingeistige Kirchturmdenken, wie zuletzt bei den Industrie- und Handelskammern vorgeführt, zu überwinden.