Braunschweig. Erinnerung und Mahnung: Der Mann, der der Hitlerjunge Salomon war, gibt uns ein Vermächtnis mit auf den Weg.

Es gibt besondere Momente, die in der Erinnerung haften bleiben: Neomi Brakin, die Nichte des verstorbenen Braunschweiger Ehrenbürgers Sally Perel, und ihr Mann Jephthah stehen eng beieinander in der Dornse des Altstadtrathauses. Gemeinsam mit Braunschweigs Kantorin der Jüdischen Gemeinde, Svetlana Kundish, singen sie aus Psalm 34 das hebräische Lied Mi Ha-ish:

„Wer ist der Mensch, der das Leben liebt und sich gute Tage wünscht? Bewahre deine Zunge vor Bösem und deine Lippen vor falscher Rede! Meide das Böse und tu das Gute; suche Frieden und jage ihm nach!“

Diesen Satz hat er sich gewünscht: „Ihr seid nicht schuld an dem, was war, aber verantwortlich dafür, dass es nicht mehr geschieht.“

Es ist stiller als still – Trauer um Sally Perel in Braunschweig, gestorben im Alter von 97 Jahren in Israel, Momente, in denen eines Mannes gedacht wird, dessen Vermächtnis zeitlos ist wie der Psalm und das wunderbare Lied. Zuletzt wünschte er sich noch, wie Neomi Brakin erzählt, einen einzigen Satz unter seinem Porträtfoto im Zentrum der Trauerfeier: „Ihr seid nicht schuld an dem, was war, aber verantwortlich dafür, dass es nicht mehr geschieht.“

Das richtet sich an die zahllosen Schüler, die zu einem wie ihm aufgesehen haben, die mucksmäuschenstill waren, wenn er sprach. Nicht nur seine Geschichte, sein Schicksal, sprach für sich. Die Familie aus Peine vernichtet von den Nationalsozialisten im Holocaust, er allein übriggeblieben, weil er sich verstellte: Er war der Hitlerjunge Salomon, er durfte weiterleben. Auch seine Persönlichkeit ließ hören, ein verschmitzter, selbstironischer, drahtiger Mann, einer, der Lebensweisheit ausstrahlte und Frieden durch Vorbild und Versöhnung suchte.

Bo Steffens (links) und Josefine Dirwehlis, Schülerinnen der Sally-Perel-Gesamtschule in Volkmarode.
Bo Steffens (links) und Josefine Dirwehlis, Schülerinnen der Sally-Perel-Gesamtschule in Volkmarode. © Peter Sierigk

Anders kriegst du den Hass nicht aus der Welt, aber du musst ihn auch stellen, wie Bo Steffens und Josefine Dirwehlis vermitteln, die jetzt ans Mikrofon treten. Sie sind Schülerinnen der Sally-Perel-Gesamtschule in Braunschweig-Volkmarode, haben Sally Perel getroffen.

Schülerinnen: „Erinnerungskultur, das ist nichts, was wir irgendwann erledigt haben“

Er stand für Respekt, Toleranz und gegen das Vergessen, sagen sie. Trotz grausamster Erfahrungen besaß er dennoch die Kraft. „In jeder Sekunde seines Lebens hat er diesen Auftrag wahrgenommen, Tag für Tag dafür gesorgt, dass die Geschichte und mit ihr die grausamen und unvorstellbaren Taten der Nazis niemals vergessen werden.“

Diesen Auftrag, diese Aufgabe, übernähmen jetzt sie, sagen die Schülerinnen. Nur nicht vergessen. Kein Vergessen!, wie im Refrain. Die vielen Geschichten der Holocaust-Überlebenden und derer, die nicht überlebten, weiter zu erzählen und niemals zu vergessen. „Erinnerungskultur, das ist nichts, was wir irgendwann erledigt haben.“

Wahrlich ein guter Lehrer, dieser Sally Perel. Ein guter Mensch, sagt Uwe Fritsch, viele Jahre Betriebsratsvorsitzender im VW-Werk Braunschweig, einst das Vorwerk in der Zeit des Nationalsozialismus, als Sally Perel dort Werkzeugmacher lernte. Viel später eine Art Botschafter für Volkswagen, das auch gemeinsam mit dem charismatischen Perel seine eigene Vergangenheit aufarbeitete und für Projekte gegen Hass, Rassismus, Gewalt und für Völkerverständigung den Sally-Perel-Preis für junge Menschen auslobt.

Legen im VW-Werk Braunschweig einen Kranz und Blumen an der Gedenktafel für Sally Perel nieder (v.l.): VW-Vorstand Gunnar Kilian, Betriebsrats-Chefin Daniela Cavallo, Werkleiter Martin Schmuck, OB Thorsten Kornblum, Daniela Nowak (Betriebsratsvorsitzende Braunschweig) und Personalleiter Schahram Khosrawi-Rad.
Legen im VW-Werk Braunschweig einen Kranz und Blumen an der Gedenktafel für Sally Perel nieder (v.l.): VW-Vorstand Gunnar Kilian, Betriebsrats-Chefin Daniela Cavallo, Werkleiter Martin Schmuck, OB Thorsten Kornblum, Daniela Nowak (Betriebsratsvorsitzende Braunschweig) und Personalleiter Schahram Khosrawi-Rad. © Peter Sierigk

Schirmherr ist Braunschweigs Oberbürgermeister Thorsten Kornblum, der jetzt im Altstadtrathaus an den Ehrenbürger Sally Perel erinnert. „Wir empfinden große Dankbarkeit für das, was er für Braunschweig, die ganze Region und für unser Land getan hat“, so Kornblum.

Braunschweigs Oberbürgermeister: „Er hatte ein großes Herz und berührte die Herzen“

Dieser Mann habe die Herzen berührt und selbst ein großes Herz gehabt. Ja, fast habe man ihn für alterslos gehalten, für einen, der immer da ist.

Später erzählt Uwe Fritsch vom letzten Besuch 2022 in Israel beim Freund, der Sally Perel längst geworden war. Fritsch organisierte den Eintrag des Ehrenbürgers ins Goldene Buch der Stadt und hatte natürlich ein Eintracht-Aufstiegs-Trikot für ihn dabei. Man tauschte sich bei einem Glas Rotwein über das komplizierte Weltgeschehen aus, da gab es immer viel zu reden. „Und wie immer die Verabredung zum Abschied: Bitte bleib gesund – und spätestens zum 100. Geburtstag treffen wir uns wieder ...“

„Vorbei, vorbei, vorbei, ein letzter Gruß, ein letztes Wort zum Abschied, vorbei“, singt Svetlana Kundish ein Liebeslied von Hirsch Lewin, der 1932 in Berlin das jüdische Semer-Label gründete. Ein trauriger, ein melancholischer, würdiger, auch ein schöner Abschied.

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