Osterode. Rettungskräfte und Hilfsorganisationen stellen sich auf der Blaulichtmeile Osterode vor: Notfallseelsorger Horst Reinecke berichtet über seine Arbeit

Blaulicht ist am Samstag, 6. Mai, von 10 bis 15 Uhr das beherrschende Thema in der Innenstadt von Osterode. Denn dort informieren auf der ersten Osteroder Blaulichtmeile Aktive der Feuerwehren der Stadt Osterode, des Technischen Hilfswerks THW, der Polizei, des DRK, der Johanniter, der DLRG, des Funkhilfsdienstes, der Verkehrswacht, der Notfallseelsorge und der Rettungshundestaffel über ihre Arbeit.

Pastor und Notfallseelsorger Horst Reinecke.
Pastor und Notfallseelsorger Horst Reinecke. © HK | Kathrin Franke

Vorab erzählt uns Horst Reinecke, Pastor und Leitender Notfallseelsorger sowie Sprengelbeauftragter für Notfallseelsorge des Sprengels Hildesheim-Göttingen, was seine Tätigkeit ausmacht.

Wie sind Sie dazu gekommen, als Notfallseelsorger tätig zu werden?

Ich bin Pastor von Beruf, da gehört Seelsorge und für mich auch die Notfallseelsorge dazu. Das bedeutet, im Notfall Seelsorge zu machen. Von daher mache ich das im Prinzip, solange ich Pastor bin – also seit über 30 Jahren. Ich hab’ aber hier in Osterode vor ungefähr 21 Jahren damit angefangen. Und zwar weil die Feuerwehr und der Rettungsdienst und auch die Polizei damals an die Kirche herangetreten sind und gesagt haben: „Wir bräuchten seelsorgerische Unterstützung in schweren Situationen.“ Bislang hatte man immer den Ortspastor angerufen. Aber die Aufgaben der Pastoren sind so vielfältig geworden, dass man nicht immer davon ausgehen kann, einen Ortspastor auch zu erreichen. Deswegen haben wir eine verlässliche Notfallseelsorge aufgebaut.

Wie sieht die aus?

Wir sind ein Notfallseelsorge- Team, das jetzt 21 Jahre besteht. Angefangen haben wir mit fünf Leuten. Mittlerweile sind wir 16 im Team –bestehend aus Ehrenamtlichen und Hauptamtlichen. Die Hauptamtlichen sind alles Pastoren und Pastorinnen, und die anderen sind Ehrenamtliche, die aber eine Notfallseelsorge-Ausbildung haben, die sie dann dazu auch in die Lage versetzt, diesen besonderen Dienst zu leisten.

Wie stellt sich so eine Ausbildung dar?

Im Moment dauert bei uns in der Landeskirche eine grundsätzliche Seelsorge-Ausbildung ungefähr ein Jahr lang. Sie erfolgt an mehreren Wochenenden. Wenn man diesen Basiskurs absolviert hat, sattelt man noch ein spezielles Grundmodul für Notfallseelsorge drauf. Wenn das mit den ganzen anderen Formalitäten erfolgt ist – zum Beispiel ein erweitertes Führungszeugnis, das Unterschreiben des Seelsorgegeheimnisgesetzes und eine Beauftragung durch die Superintendentin – dann darf man Notfallseelsorge machen.

Das heißt, es ist ein langer Weg für Ehrenamtliche, die das vorhaben.

Das ist richtig. Wenn jemand eine Vorbildung hat, also zum Beispiel eine Hospiz-Ausbildung, dann braucht er den Basiskurs Seelsorge nicht zu machen, sondern kann gleich das Grundmodul Notfallseelsorge absolvieren. Es geht ja darum, dass wir unsere Ehrenamtlichen so gut wie möglich vorbereiten wollen auf den Dienst. Von daher ist diese Ausbildung natürlich sehr vielfältig und auch sehr intensiv, weil man als Notfallseelsorger in wirkliche Extremsituation kommt.

Als Pastor sind Sie alltäglich auch mit dem Tod konfrontiert. Das ist Teil der Ausbildung. Haben Sie dennoch ein Zusatzmodul belegt?

Seelsorge ist in der Pastoren-Ausbildung natürlich ein sehr ausführlicher Teil. Von daher brauchen wir das eigentlich nicht. Gleichwohl sind Notsituationen auch etwas Besonderes für Pastorinnen und Pastoren. Mittlerweile ist das in der Ausbildung eines Pastoren auch speziell in der Vikarsaubildung mit drin. Aber alle, die bei uns in der Notfallseelsorge arbeiten, haben das Grundmodul gemacht. Wir haben natürlich noch weitere Seminare besucht, um zum Beispiel auch Leitungsfunktionen zu übernehmen.

Sie werden zu jeder Tag und Nachtzeit alarmiert. Wie läuft das ab?

Wir haben wie die Feuerwehr einen digitalen Alarmempfänger und werden über die Rettungsleitstelle, also über 112, alarmiert. Es gibt täglich einen diensthabenden Notfallseelsorger. Dieser nimmt dann den Alarm entgegen, setzt sich mit der Rettungsleitstelle in Verbindung und arbeitet den Einsatz ab. Und die können ganz unterschiedlich sein. Es kann sein, dass man Hilfe braucht. Dann würde man sich bei den anderen Notfallseelsorger melden. Sofern wir können, gehen wir möglicherweise auch in den Einsatz.

Das hängt sicher von der Größe des Einsatzes, der Menge der Menschen ab, die betroffen sind?

Ja, ganz genau. Das kann kann sehr unterschiedlich sein. Ein Einsatz kann für die Notfallseelsorge als Großeinsatz gelten, obwohl er für andere gar keiner ist. Ich will mal ein Beispiel nennen: Wir hatten hier vor Jahren ein Unglück, bei dem ein kleines Kind in den Mühlenbach gefallen und ertrunken ist. Für die Notfallseelsorge war das ein größerer Einsatz, weil ganz verschiedene Gruppen betreut werden mussten, sodass zeitweise bis zu vier von uns im Einsatz waren. Aber für alle anderen war das im Prinzip ein normaler Einsatz. Die Feuerwehr und der Rettungsdienst waren natürlich da. Aber die Betreuungssituation war eine ganz andere, weil verschiedene Leute betreut werden mussten in diesem Einsatz.

Das heißt, sie betreuen dann nicht nur die betroffene Familie, sondern auch die Rettungskräfte, die an der Suche beteiligt sind?

Also, wir betreuen jeden, der betreut werden muss. Das sind zunächst einmal die Angehörigen eines Opfers. Aber es kann eben tatsächlich auch sein, dass eine Betreuung für die Einsatzkräfte nötig ist. Wenn sie zum Beispiel eine schlimme Situation erleben, fährt man vielleicht noch ins Feuerwehrgerätehaus, um mit den Kameraden und Kameradinnen sprechen. Auch Ersthelfer müssen manchmal betreut werden, weil sie noch nie in so einer Situation waren. Sie haben unmittelbar gehandelt, aber sie müssen natürlich auch mit diesem Geschehen irgendwie fertig werden. Das ist manchmal eben schwierig. Viele sind darum sehr dankbar dafür, dass sie eine kleine Unterstützung haben, sodass eine gute Verarbeitung möglich ist.

Es bedeutet also, ein Einsatz dauert so lange wie nötig in der Notsituation, aber die Betreuung geht nicht darüber nicht hinaus?

Wenn wir zu dem konkreten Notfall fahren, dann bleiben wir so lange da, bis die Situation so stabil ist. Bis wir davon ausgehen können, dass die Angehörigen zum Beispiel die Dinge selber wieder in die Hand nehmen können. Damit ist unser Einsatz beendet, weil alles, was jetzt folgt, macht die Familie. Da sind dann auch der Bestatter und der Ortspastor. Die Aufgaben, die sie übernehmen, können wir als Notfallseelsorger gar nicht leisten.

Was aber passieren kann ist, dass wir in einem Notfalleinsatz waren und dass sich am nächsten Tag ein Folgeeinsatz ergibt, weil die Situation vielleicht doch nicht so ganz geklärt war oder weil etwas Neues zu dieser Situation hinzugekommen ist und dann der Ortspastor nicht erreichbar ist. Wenn das passiert, sind wir natürlich auch ein zweites Mal vor Ort.

Was ist, wenn es mir nicht gut geht und ich sehr dringend ein seelsorgerisches Gespräch brauche?

Dann ist dafür die Telefonseelsorge da, nicht wir. Wir sind dafür da, wenn jemand plötzlich und unerwartet mit dem Tod konfrontiert wird: durch einen Unfall, durch einen plötzlichen Tod, durch einen Suizid. Es kann auch bei häuslicher Gewalt sein, wo eine unmittelbare schnelle Hilfe erforderlich ist. Wenn jemand das persönliche und nicht das telefonische seelsorgerische Gespräch braucht, dann kann er uns natürlich über 112 anfordern. Das geht dann so, dass die Leitstelle die Telefonnummer fordert. Wir rufen zunächst einmal zurück, um den Kontakt aufzunehmen und zu gucken, was eigentlich los ist. Und wenn dann tatsächlich etwas ist, zum Beispiel Androhungen von Suizid oder etwas in der Art, dann fahren wir natürlich hin. Wir sind ja mal dafür angetreten, damit in Notsituationen – wie immer die auch aussehen mögen – kein Menschen alleine sein muss, sondern er zumindest jemand an seiner Seite hat. Deswegen ist Notfallseelsorge auch erste Hilfe für die Seele.

Spielt es bei Ihren Einsätzen eine Rolle, welcher Religion jemand angehört und ob er überhaupt gläubig ist?

Hier ist ein Mensch in Not und diesem wird versucht zu helfen – einfach aus unserer Motivation heraus, aus Nächstenliebe. Dabei ist es völlig egal, ob jemand in der Kirche ist oder nicht. Oder ob er Muslim ist oder Christ, wobei es bei diesen religiösen Unterschieden natürlich auch Unterschiede in der Betreuung gibt.

Wie wird diese Betreuung angenommen?

In diesen ganzen 20 Jahren, in denen ich das mache, ist es vielleicht zweimal vorgekommen, dass jemand gesagt hat: Ich brauche keinen Notfallseelsorge. Aber die ganzen anderen Fälle – und das sind ja fast 500 gewesen – sind eben anders gewesen. Die Menschen sind immer dankbar dafür gewesen, dass jemand ihnen einfach zur Seite steht und da ist.

Man muss sich das nicht so vorstellen, dass wir da reingehen mit der Bibel in der Hand und dann irgendwelche Bibelverse zitieren. Das machen wir nicht. Die Leute wissen zwar, wo wir herkommen, nämlich von der Kirche. Aber wir einfach erstmal da. Wir hören zu. Wir nehmen uns Zeit. Wir schenken Nähe, falls gewollt. Wir schweigen miteinander, wenn gewollt. Wir halten das mit aus, wenn jemand in Tränen ausbricht. Wir halten auch die Ohnmacht aus. Die Fragen wie: Weshalb und warum tut der liebe Gott mir das? Wir versuchen, unsere betreuten Menschen dazu zu bringen, dass sie selber einen Weg finden. Man schlägt zum Beispiel vor, wollen wir nicht eine Kerze anzünden? Wollen wir nicht ein Foto dazu stellen? Oder wenn der Verstorbene aus dem Haus getragen wird, ob wir nicht eine kleine Aussegnung machen können, zusammen vielleicht noch ein Gebet sprechen. Meistens sind die Angehörigen sehr dankbar, dass da jemand ist.

Es muss keiner Angst haben, dass er evangelikalisiert wird, wenn die Notfallseelsorge kommt. Wir sind da und die ganze Situation entwickelt sich. Sie hat ja immer eine eigene Dynamik. Wir versuchen, Sicherheit zu schaffen, vielleicht durch das Erzählen, zum Beispiel davon, was vielleicht in den Folgetagen passieren wird. Wir erklären etwa, dass man verwirrt sein kann, dass man vielleicht Albträume bekommt, dass man das Bild des Gesehenen zunächst noch vor Augen haben kann. Und wir erklären, dass das ganz normal ist, wenn so etwas passiert. Wir geben den Menschen dadurch auch die Sicherheit, dass sie gerade nicht verrückt werden, sondern dass ihre Seele einfach versucht, mit dem Erlebten klarzukommen.

Wie geht es Ihnen selbst damit und wie kommen Sie damit zurecht?

Sowohl wir als Pastoren und auch die Ehrenamtlichen, die bei uns sind, haben natürlich andere Handlungsstrategien als ganz normale Bürger, die mit Tod und Sterben nicht so viel zu tun haben. Für Letztere ist es eine Extremsituation, weil es ein Angehöriger ist. Von daher können wir mit dem Tod anders umgehen, gehen auch anders mit den Menschen um und haben natürlich auch eine bestimmte Hoffnung, die sich aus unserem Glauben ergibt. Da ist jemand zu Tode gekommen, vielleicht auch auf sehr schlimme Weise, und trotzdem ist das nicht das letzte Wort.

Dennoch gibt es auch für uns schwierige Situationen. Man kann Ereignisse zum Beispiel übertragen, etwa wenn man selbst Kinder oder Enkelkinder in dem Alter hat und man einen Jungen findet, der schwerstverletzt ist. Bei Kindern ist ein Einsatz sowieso immer sehr schwierig, kostet unglaublich viel psychische Kraft. Ein Notfallseelsorger, der einen schweren Einsatz gehabt hat, bekommt aber die Erholung, die er braucht. Er kann auch sagen, dass er jetzt keinen zweiten Einsatz übernehmen kann. Jeder hat seine eigenen Taktiken. Aber es gibt bei uns auch Supervision. Und wir haben regelmäßige Teamtreffen, in denen wir miteinander die einzelnen Einsätze besprechen.

Den zweiten Teil des Interviews lesen Sie ab Donnerstagabend hier: Teil des Lebens: Wie ein Notfallseelsorger mit Leid umgeht

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