Göttingen. Der frühere Innenminister war im Rahmen des Literaturherbstes in Göttingen zu Gast, um sein aktuelles Buch vorzustellen. Doch dazu kam es nicht.

Im Rahmen des Göttinger Literaturherbstes wollte der ehemalige deutsche Innenminister Thomas de Maizière (CDU) am Montagabend aus seinem Buch „Regieren“ lesen. Doch dazu kam es nicht: Etwa 100 Aktivisten hatten die Eingänge zum Alten Rathaus blockiert.

Scheinbar hatten die Verantwortlichen die Lage vollkommen falsch eingeschätzt. „Niemand hat damit gerechnet“, sagte Johannes-Peter Herberhold, Geschäftsführer des Literaturherbstes, zu den Gästen auf dem Marktplatz vor dem Alten Rathaus. Die Lesung konnte nicht stattfinden. „Die Polizei hält es für zu gefährlich, wir müssen uns der Gewalt beugen“, so Herberhold. De Maizière ließ sich entschuldigen: Er habe immer für Recht und Ordnung gestanden. Laut Auskunft von Herberhold wird es einen Ersatztermin geben, an einem Ort, der besser gesichert ist.

Thomas de Maizière wurde durch einen Hintereingang aus dem Gebäude gebracht.
Thomas de Maizière wurde durch einen Hintereingang aus dem Gebäude gebracht. © Stefan Rampfel

Aufmerksam auf die Kundgebung wurde de Maizière, als er mit Fraktionskollege Fritz Güntzler die Weender Straße entlang ging. Beide kamen von einer Diskussionsveranstaltung im Institut für Demokratieforschung der Universität, als ein Anruf Güntzler über die Lage in Kenntnis setzte. Über die Gotmarstraße gelangten beide – unbemerkt von den Demonstranten – über einen Hintereingang in die Räume des Restaurants Bullerjahn, im Keller des Alten Rathauses.

Auf dem Marktplatz waren indess Schüsse und Sirenen zu hören, die aus einem Lautsprecher kamen und auf die deutschen Waffenlieferungen, unter anderem an die Türkei, aufmerksam machten. „Wir protestieren heute, weil Thomas de Maizière und seine Partei eine besondere Verantwortung für die Waffenlieferungen haben“, so eine Sprecherin der Antifaschistischen Linken (A.L.I.). Solch einer menschenverachtenden Politik und der Propaganda solle keine Bühne gegeben werden, weder in Göttingen und woanders. Man fordere die Bundesregierung auf, diese Lieferungen sofort einzustellen. Die weitere Kritik der Demonstranten: Als Verteidigungsminister sei der CDU-Politiker ausgesprochener Befürworter deutscher Kriegseinsätze gewesen. Er habe den staatlichen Überwachungsapparat ausgebaut. „De Maizière ist mit seiner Politik verantwortlich für die Verfolgung linker und progressiver Kräfte“, so eine Sprecherin. Die Blockierer demonstrierten zudem gegen den Angriffskrieg auf Rojava.

Unverständnis kam von den Gästen der ausverkauften Lesung: „Ich bin schockiert, wie die Antifa diese wunderbare Veranstaltung torpediert. Ich habe absolut kein Verständnis für den Protest. Das ist unmöglich, das ist kriegerisch“, so ein Besucher. Eine Frau sagte: „Ich finde es gut, dass die Lesung abgesagt wurde und dass es friedlich bleibt. Wir finden die Waffenlieferungen auch nicht gut, aber jetzt ist es zu spät.“ Die Polizei sagte den Gästen, man könne Anzeige wegen Nötigung gegen die Demonstranten stellen. Nach einer knappen Stunde wurde der Politiker von einer Zivilstreife der Göttinger Polizei wieder am Hintereingang des Alten Rathauses abgeholt – unbemerkt von den Demonstranten. Diese hatten die Treppen bereits verlassen, sie hatten ihr Ziel erreicht.

In einer Pressemitteilung vom Dienstag äußert sich Güntzler zu den Vorgängen vom Montagabend: „Ich bin schockiert über die Ausmaße dieser Aktion, die ein Angriff auf unsere Demokratie war. Jeder darf in Deutschland seine Meinung äußern und demonstrieren. Wenn aber Menschen tätlich angegangen werden und man nicht zu einer argumentativen Auseinandersetzung bereit ist, dann sind die Grenzen des tolerierbaren erreicht.“ Thomas de Maizière hätte gern, so Güntzler in der Stellungnahme weiter, auch mit den Demonstranten diskutiert. Leider sei es dazu nicht gekommen, „weil diese Leute gar keine andere Meinung zulassen“. Viele Besucher seien traurig und entsetzt vom Alten Rathaus nach Hause gegangen. „Das ist wirklich schade“, so Güntzler.

Die Göttinger Literaturherbst GmbH hat am Dienstag ebenfalls Stellung zu den Vorgängen genommen: „Der Göttinger Literaturherbst, Niedersachsens größtes Literaturfestival, ist seit 28 Jahren ein Fest der Kunst, des Wissens und der Meinungsfreiheit. Eine solche Aktion hat es gegen Autorinnen und Autoren unseres Festivals noch nicht gegeben“, so Johannes-Peter Herberhold, Geschäftsführer des Festivals. „Wer den Dialog über politische Themen verhindert und verweigert, stellt sich selbst ins Aus. Beim Versuch, als Veranstalter die Räumlichkeiten des Alten Rathauses zu betreten, wurde ich nicht nur aufgehalten, sondern selbst tätlich angegriffen.“ Man danke der Besonnenheit der Polizei, die dafür gesorgt habe, dass die Situation ansonsten friedlich geblieben sei. Dank gelte auch den Beteiligten des Abends und dem Publikum für ihr Verständnis. „Als Festival bleiben wir in jedem Fall dabei, politisch neutral eine Plattform für den offenen Dialog zu bieten, der ein unverrückbarer Grundpfeiler unserer Demokratie ist.“ Die Veranstaltung mit Thomas de Maizière werde kurzfristig am gleichen Ort, dem Alten Rathaus, nachgeholt. Der genaue Termin werde bekannt gegeben, sobald er feststehe. Bereits erworbene Karten würden ihre Gültigkeit behalten. Für Rückfragen steht das Festival unter der Telefon 0551/ 50766972 oder über info@literaturherbst.com zur Verfügung.

Thomas de Maizière hatte 28 Jahre Regierungsverantwortung und ist einer der prominentesten Bundespolitiker. In seinem Buch „Regieren“ geht es um Institutionen, Strukturen, Rollen, Krisen, um den Regierungsalltag mit Lobbyisten, Bankern, Unternehmern und auch um die Kanzlerin. Auf eine ganz sachliche, problemorientierte Art legt dieses Buch Strukturen des Regierens offen. Der Göttinger Literaturherbst ist mit 80 Veranstaltungen eines der größten Lese-Festivals Europas.