Washington. In den USA beuten Firmen Minderjährige aus, die als Flüchtlinge ins Land kamen. Nicht überall soll das gestoppt werden – im Gegenteil.

Seit Upton Sinclairs fast 120 Jahre altem Skandal-Roman „Der Dschungel” über die erschütternden Verhältnisse in den Schlachthäusern von Chicago hört Amerika genau hin, wenn in der fleischverarbeitenden Industrie Sauereien passieren. Diesmal geht es nicht um ethische oder hygienische Fehler bei der industriellen Tötung von Tieren. Sondern um diejenigen, die oft nachts für die nächste Schicht auf dem rutschigen „Kill Floor” Blut, Fett und Eingeweide abkratzen – und danach übermüdet im Schulunterricht einschlafen.

In 13 Schlachthäusern und Fleischfabriken in acht Bundesstaaten der USA, von Nebraska über Minnesota bis Kansas und Alabama, hat die Reinigungsfirma „Packers Sanitation Services” (PSSI) mehr als 100 Kinder mit lateinamerikanischem Flüchtlingshintergrund für diese gefährlichen Jobs angeheuert. Die jüngsten sind gerade Mal 13 Jahre alt.

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Dabei können ätzende Chemikalien die Haut verbrennen und über 100 Kilogramm schwere Sägen Finger abtrennen. Das Unternehmen musste dafür 1,5 Millionen Dollar Bußgeld bezahlen, legt aber Wert auf die Feststellung, dass die jungen Arbeiter und Arbeiterinnen Sozialversicherungsnummern besessen hätten. Und diese seien von einem staatlichen elektronischen Kontroll-System (E-Verify) als authentisch eingestuft worden.

USA: Kinder kommen aus Lateinamerika über die Südgrenze

Die Berichterstattung über den Fall, der auf Langzeit-Recherchen der „New York Times” und des Senders NBC zurückgeht, wirft ein Schlaglicht auf ein Phänomen, das beschleunigt durch den Einwanderungsdruck an der Südgrenze zu Mexiko prekäre Ausmaße angenommen hat.

US-Arbeitsminister Marty Walsh berichtet von einem knapp 70-prozentigen Anstieg illegaler Kinderarbeit seit 2018. Allein im vergangenen Jahr identifizierte das Ministerium 835 Firmen, die rund 4000 Kinder illegal beschäftigt haben – nicht nur in der Fleischindustrie. 600 Ermittlungsverfahren sind zurzeit anhängig.

Im US-Bundesstaat Illinois protestieren Aktivisten vor einer Verpackungsfabrik gegen die Ausbeutung von Kindern.
Im US-Bundesstaat Illinois protestieren Aktivisten vor einer Verpackungsfabrik gegen die Ausbeutung von Kindern. © Getty Images via AFP | SCOTT OLSON

Das Problem dabei: Die Strafen für die Firmen sind im Einzelfall mit rund 15.000 Dollar pro Kind so gering, dass sie von den Unternehmen stillschweigend eingepreist würden, sagen Gewerkschaften und Hilfs-Organisationen. Sie sehen die Dunkelziffer „im Bereich von Zehntausenden”.

Mit 14 dürfen Kinder in den USA arbeiten

In den USA dürfen Kinder in der Regel bereits ab 14 Jahren arbeiten. Bis sie 16 sind, ist aber nur eine begrenzte Zahl an Arbeitsstunden erlaubt, damit der Schulbesuch weiter möglich ist. Arbeit spät abends und in der Nacht ist ausgeschlossen. Dazu verbieten seit 1938 landesweite Gesetze die Einstellung von unter 18-Jährigen in gefährlichen Branchen. Dazu zählen Schlachthäuser, aber auch Dachdecker-Betriebe.

Gina Swenson, die Sprecherin von „Packers Sanitation”, das 17.000 Reinigungskräfte in 700 fleischverarbeitenden Betrieben in den USA beschäftigt und dem Investment-Riesen Blackstone gehört, schiebt das Problem auf einige wenige Personalverantwortliche, von denen man sich getrennt habe. „Als Eltern und Bürger wollen wir keinen einzigen Mitarbeiter unter 18 bei uns. Basta”, sagt Swenson.

Die Verhältnisse sind anders. Das Schlachthaus des in Brasilien ansässigen globalen Fleisch-Riesen JBS, in dem die Sache mit dem viel zu jungen Reinigungspersonal zuletzt aufgeflogen war, liegt in Grand Rapids. Die 50.000-Einwohner-Stadt im strukturschwachen Nebraska hat seit 2019 rund 260 unbegleitet geflüchtete Kinder und Jugendliche aus Lateinamerika zugewiesen bekommen; das Gros aus Guatemala.

„Diese Kinder sind für Geschäftemacher leichte Beute”

In Worthington/Minnesota, wo neben 14.000 Menschen auch ein riesiges Schlachthaus existiert, kamen seit 2015 über 600 Minderjährige an. „Diese Kinder sind für Geschäftemacher leichte Beute”, berichten lokale Medien und zeigen mit dem Finger auf Washington.

Die Regierung von Präsident Joe Biden muss sich aus Experten-Sicht den Vorwurf gefallen lassen, unbegleitete Minderjährige aus Latein- und Mittelamerika nach dem Grenzübertritt zu früh aus staatlich kontrollierter Obhut zu entlassen. Heißt: Bevor klar ist, dass sie bei Verwandten, Freunden oder anderswo in guten Händen sind.

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Oft werde aus Personalmangel in den zuständigen Abteilungen der Ministerien für Heimatschutz, Gesundheit und Soziales nicht mehr sorgfältig überprüft, „ob Kinder in miserabel bezahlte und gesundheitsgefährdende Jobs gedrängt werden, um ihre Schulden gegenüber Schleusern abzutragen”, sagen staatliche Sachbearbeiter in US-Medien. In Einzelfällen berichteten Jungen und Mädchen, die es in die USA geschafft haben, von Rechnungen über 8000 Dollar, die es zu begleichen galt. Viele davon rutschen den Behörden einfach durch.

In Iowa wird man 14-Jährige demnächst in Kühlhäusern antreffen

Von über 250.000 Kindern und Jugendlichen, die in 2021 und 2022 unbegleitet über die Südgrenze zu Mexiko ins Land gekommen sind, sind nach inoffiziellen Angaben der Behörden mittlerweile 85.000 vom Radar staatlicher Agenturen verschwunden.

Der Skandal, der es längst in die Regierungspressekonferenz im Weißen Haus geschafft hat, trifft auf eine Gegenbewegung. Um dem Arbeitskräftemangel zu begegnen, werden etliche Bundesstaaten die Regeln gegen Kinderarbeit demnächst lockern. In Minnesota dürfen bald schon 16-Jährige auf großen Baustellen arbeiten. In Iowa wird man 14-Jährige demnächst in Kühlhäusern antreffen.

Auch ihre Arbeitszeit soll auf 21 Uhr ausgeweitet werden, im Sommer sogar auf 23 Uhr. In Arkansas, wo die frühere Sprecherin von Ex-Präsident Donald Trump, Sarah Huckabee Sanders Gouverneurin ist, müssen unter 16-Jährige künftig keine Genehmigung der Eltern oder des regionalen Arbeitsamtes mehr vorweisen, bevor sie einen Job antreten.