Berlin. Die eigene Familiengeschichte der Nazi-Zeit bewegt sich oft im Ungefähren. Doch eine Abfrage kann schnell Licht ins Dunkel bringen.

Das Foto, das Andrea Bentschneider von ihrem Großonkel hat, ist skurril: Vor einer Reihe brav uniformierter Wehrmachtssoldaten steht Lothar Rex als selbst ernannte „Luna“ mit BH und Turban leicht bekleidet auf der Bühne einer deutschen Kaserne. Das Foto stammt von 1942 – mitten im Zweiten Weltkrieg. Auch von ihrem Großvater Hermann Rex gibt es ein Bild, wie er streng mit Wehrmachtsuniform in die Kamera blickt.

Doch neben diesen Fotos, emotionalen Briefen und einem Tagebuch hatte Bentschneider nichts in der Hand, was ihr die Frage beantworten könnte, was ihre Vorfahren im ZweitenWeltkrieg genau gemacht haben. „Ich wollte einfach mehr rausfinden über meine männlichen Vorfahren“, sagt sie im Interview mit dieser Redaktion. Also stellte sie vor einigen Jahren eine Abfrage an die damalige Deutsche Dienststelle, die heute Teil des Bundesarchivs ist.

Wehrmachtsauskunftstelle: Lothar Rex, Bruder von Großvater Wilhelm Hermann „Männe“ Rex tanzt.
Wehrmachtsauskunftstelle: Lothar Rex, Bruder von Großvater Wilhelm Hermann „Männe“ Rex tanzt. © Andrea Bentschneider | Unbekannt

Bundesarchiv-Anfragen zur NS-Zeit sehr hoch

Diese Fragen, wie sie sich Bentschneider stellt, stellen nach wie vor viele Menschen an ihre eigene Familiengeschichte. Zahlen, die dieser Redaktion vorliegen, zeigen, dass viele Deutsche mit der Ungewissheit brechen möchten.

Denn die Abfragen beim Bundesarchiv sind konstant hoch. Im Jahr 2021 gingen dort 56.000 Rechercheanfragen zur NS-Zeit ein. 42.000 davon stammen von Privatpersonen, die etwa ihre eigene Familiengeschichte aufklären wollen. Die restlichen Anfragen stammen aus der Wissenschaft und Forschung.

Dabei blieb diese Zahl nach Angaben des Bundesarchivs in den letzten vier bis fünf Jahren unverändert stabil. „Mit den zahlreichen Anfragen werden immer wieder neue und wichtige Aspekte zu diesen finsteren Jahren der deutschen Geschichte in den Blick genommen“, äußert sich Bundesarchiv-Präsident Michael Hollmann. „Zugleich tragen unsere Unterlagen entscheidend zur Aufklärung von Familiengeschichten und Einzelschicksalen bei.“

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Bundesarchiv in Koblenz: Die Institution verzeichnet eine hohe Nachfrage von Privatpersonen, die mehr über ihre Familiengeschichte erfahren wollen.
Bundesarchiv in Koblenz: Die Institution verzeichnet eine hohe Nachfrage von Privatpersonen, die mehr über ihre Familiengeschichte erfahren wollen. © Thomas Frey | Unbekannt

Zwischen Tätern und Opfern – quer durch alle Generationen

Anfragen gehen beim Bundesarchiv aus allen Generationen ein. Egal, ob Familienangehörige im Rentenalter die Geschichte ihrer Eltern aufklären wollen oder junge Menschen Fragen zu den Urgroßeltern stellen. Was die Menschen nach fast 78 Jahren nach Ende des Zweiten Weltkrieges über ihre eigene Geschichte lernen wollen ist durchaus verschieden.

„Es gibt Menschen, die bei uns anfragen, weil sie jemanden suchen, der noch immer vermisst ist“, berichtet ein Sprecher des Bundesarchives dieser Redaktion. „Andere möchten ihre eigene Familiengeschichte aufarbeiten und Licht ins Dunkel von Jahrzehnten bringen – zum Beispiel, weil darüber in der Familie nicht gesprochen wurde oder weil diejenigen, die es wissen könnten, mittlerweile verstorben sind.“

Bentschneider klärt ihre Familiengeschichte auf

So auch bei Bentschneider, die durch die Fotos oder etwa die Feldpost ihres Großvaters zwar das emotionale Innenleben ihrer Vorfahren nachvollziehen kann, aber nur wenig über ihren harten Kriegsalltag weiß.

Ihre Mutter sei drei Jahre alt gewesen, als Bentschneiders Großvater Herrmann starb. „Insofern stand das nicht zur Debatte, dass Informationen über ihren Vater vorliegen“, so die 54-Jährige, die selbst Ahnenforscherin ist. „Da war mein Anliegen, mehr rauszufinden: Wo genau hat er gedient? Was gibt es eigentlich für Informationen?“

Andrea Bentschneider: Mit der Unwissenheit über die eigene Familiengeschichte aufräumen.
Andrea Bentschneider: Mit der Unwissenheit über die eigene Familiengeschichte aufräumen. © Privat | Unbekannt

Die Abfrage brachte Licht ins Dunkel der nebulösenVergangenheit ihrer Verwandten. Sowohl für ihren Großvater Herrmann, als auch ihren Großonkel Lothar bekam sie Akten zugestellt. „Ich bekam mehrere aus Büchern kopierte Seiten über die verschiedenen Regimente und Landkarten“, wodurch Bentschneider detailliert nachvollziehen konnte, wo ihre Vorfahren unterwegs waren.

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Mit der Wehrmacht in Europa und Afrika

Eine grobe Ahnung hatte Bentschneider bereits, dass ihr Großvater Herrmann mit der Wehrmacht an der Ostfront war. Auch dass er zuvor in Hamburg beim Wetterdienst gearbeitet hatte, war bekannt. „Aber ich wusste nicht, dass er in dieser Funktion in den Krieg geschickt wurde.“ Denn auf der vom heutigen Bundesarchiv überstellten Akte steht, dass er für die Deutsche Seewarte Chef der Luftwehr war. Kommentar: Holocaust-Gedenken: Auf was es jetzt in Deutschland ankommt

Auch bei Großonkel Lothar, der auf den Familienfotos leicht bekleidet seine Kameraden erheitert, kommen für Bentschneider neue Erkenntnisse zum Vorschein. Stück für Stück fügen sich sich Puzzleteile aus übermittelter Familiengeschichte und den harten Fakten der Akten zusammen. „Bei dem Bruder meines Großvaters war mir nicht klar, dass er mit Rommel in Afrika war“, erzählt Bentschneider.

Großvater Wilhelm Hermann „Männe“ Rex in Uniform.
Großvater Wilhelm Hermann „Männe“ Rex in Uniform. © Andrea Bentschneider | Unbekannt

Doch auch hier geben die Akten Aufschluss: Mit der 15. Panzer-Grenadier-Division zog Lothar 1942 nach Afrika, stieß etwa ab Juni „über Tobruk, Sollum, Marsa, Matruk zur ägyptischen Grenze“. Eine angefügte Karte zeigt dann den späteren Rückzug der Panzer-Grenadier-Division über Italien.

Was bleibt, ist letztlich ein fast fertiges Puzzle privater Familiengeschichten. „Für mich ist das interessant gewesen, weil diese rein militärischen Daten und Fakten durch die privaten Erzählungen durch Briefe und Tagebuch mit Leben aufgefüllt wurden“, resümiert Bentschneider die Geschichte ihrer Vorfahren, die sich irgendwo zwischen Erwin Rommels Afrikafeldzug und einem auf der Bühne tanzenden Mann im BH bewegt.

Wer eine Anfrage an das Bundesarchiv stellen möchte, kann das unter diesem Link tun.