Berlin. Die Rückkehr zur Wehrpflicht könnte die Bundeswehr tiefer in der Gesellschaft verankern. Aber wäre sie militärisch überhaupt sinnvoll?

Wie groß die Wucht der Wehrpflicht einst war, zeigt eine Zahl aus einer weit vergangenen Zeit des Kalten Krieges. 1977 leisteten fast 250.000 junge Menschen Dienst an der Waffe. Eine andere Zahl zeigt, wie wenig die Bundeswehr zuletzt interessierte. Nicht einmal mehr 9000 Menschen traten in den vergangenen Jahren zum freiwilligen Wehrdienst an, die Zahl stagniert seit der Aussetzung der Pflicht im Jahr 2011.

Nun ist wieder Krieg in Europa – und Deutschland debattiert vor allem über eines: Waffen und Kriegsgerät. Über Panzer, über Flugabwehr, und nun sogar über Kampfjets, die in die Ukraine geliefert werden sollen. Jedenfalls nach Wunsch der Regierung in Kiew. Doch wenig diskutiert die Politik über Personal. Über die Soldatinnen und Soldaten, die an den Waffensystemen sitzen. Mit dem Krieg Russlands in der Ukraine hat auch die Nato als Verteidigungsbündnis an Gewicht gewonnen. Und damit die Verpflichtungen Deutschlands, diese Allianz zu unterstützen. Mit Kriegsgerät, aber eben auch mit Soldaten.

Bundeswehr: Seit Jahren hat die Truppe ein Personalproblem

Seit Jahren hat die Bundeswehr aber ein Personalproblem. Die angestrebte Stärke von gut 200.000 Soldatinnen und Soldaten erreicht sie nicht. Auch hier stagniert die Zahl der Berufssoldaten bei rund 175.000. Und jedes Jahr gehen mehrere Tausend Frauen und Männer in Uniform in den Ruhestand. Sogar „Karrierecenter“ präsentiert die Truppe nun in verschiedenen deutschen Großstädten, stellt Karriereberater ein, wirbt auf Messen oder sogar auf Musik-Festivals. Geholfen hat es in den vergangenen Jahren kaum.

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Die neue Lage im Osten drängt nun eine alte Frage zurück auf die Agenda: Muss die Wehrpflicht, erst 2011 abgeschafft, wieder eingeführt werden? Einzelne Stimmen fordern das. Oder sagen wir: Sie liebäugeln mit den alten Zeiten. So wie der neue Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD). In der „Süddeutschen Zeitung“ sagte er: „Unsere Parlamentsarmee gehört in die Mitte der Gesellschaft. Früher saßen eben an jedem zweiten Küchentisch Wehrpflichtige. Auch dadurch gab es immer eine Verbindung zur Zivilgesellschaft.“

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Pistorius: Aussetzung der Wehrpflicht ein Fehler

Die Aussetzung der Wehrpflicht nennt Pistorius einen Fehler, ebenso wie Kanzler Olaf Scholz (SPD) kürzlich im Bundestag. Ernsthafte Pläne zur Wiedereinführung der Wehrpflicht gibt es in der Bundesregierung aber nicht. Dies würde lange dauern und der Bundeswehr daher „in den kommenden Jahren auch nicht helfen“, sagte Pistorius am Mittwoch am Rande eines Truppenbesuchs im westfälischen Augustdorf. Der Reservistenverband hat dazu eine klare Meinung: „Die Bundesrepublik Deutschland ist nicht zu verteidigen, wenn es denn sein müsste, wenn wir keine Wehrpflicht haben“, sagte der Verbandspräsident Patrick Sensburg der „Welt“.

Es sind zwei Aspekte, die hier wichtig sind: Zum einen die reine Zahl an Personal in Uniform, die Masse an Soldaten in der Truppe, die mit einer Pflicht zum Dienst einen Schub bekäme. Zum anderen hebt Pistorius die Bindung der Bundeswehr in die Gesellschaft, in die Familien, hervor. Das ist nicht in erster Linie wichtig für die Personaldebatte, sondern vor allem auch für die Anerkennung der Truppe und das Wissen von der Arbeit, die die Bundeswehr leistet. Es ist diese Verankerung in der Gesellschaft, die auch Soldaten in Gesprächen mit unserer Redaktion immer wieder als sehr bedeutend für die Truppe hervorheben.

Verteidigungsminister Boris Pistorius besucht das Panzerbataillon 203 der Bundeswehr und steigt bei einer Vorführung in den Turm eines Leopard 2A6.
Verteidigungsminister Boris Pistorius besucht das Panzerbataillon 203 der Bundeswehr und steigt bei einer Vorführung in den Turm eines Leopard 2A6. © dpa | Federico Gambarini

Wiedereinführung der Wehrpflicht würde Milliarden kosten

Doch daran, wie sinnvoll eine Wiedereinführung der gerade erst vor gut zehn Jahren abgeschafften Wehrpflicht, ist, gibt es erhebliche Zweifel. Vor allem eines fehlt: Die Infrastruktur, um diese vielen jungen Menschen auszuwählen, auszustatten und unterzubringen. Oder andersherum: Es würde Jahre dauern und Milliarden kosten, den Wehrdienst-Apparat wieder hochzuziehen. Genaue Kosten hat niemand bisher ernsthaft kalkuliert.

In den vergangenen Jahrzehnten wurden Kasernen zusammengelegt, Bataillone der Truppe gestrichen, die Erfassung von Schülern zum Wehrdienst eingedampft, der gesamte Ausbildungsbereich des Militärs ist zusammengestrichen, weil ja nicht mehr Zehntausende jedes Jahr den Dienst beginnen. Mit der Abschaffung der Wehrpflicht wurde die Parlamentsarmee auch zu einer Berufsarmee – spezialisiert auf einzelne Einsätze vor allem im Ausland, in Mali oder in Afghanistan. Dafür braucht es wenige, aber intensiv ausgebildete Soldatinnen und Soldaten, und entsprechende High-Tech-Waffensysteme.

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Krieg in der Ukraine befeuert Debatte um Wehrpflicht

Der Krieg in der Ukraine hat die Debatte noch einmal befeuert. Auch deshalb, weil der Angriff Russlands unerwartet konventionell abläuft: mit Panzern und Artillerie, mit einem unfassbar brutalen Verlust an Menschenleben an der Front. Der russische Angriff ist weit weg von einem High-Tech-Krieg. Und doch bleiben Fachleute skeptisch, ob eine Wehrpflicht die richtige Antwort auf neue Bedrohungsszenarien ist.

Der Generalinspekteur der Bundeswehr, Eberhard Zorn, sagte unserer Redaktion zu Beginn des russischen Angriffs in der Ukraine: „Die Wehrpflicht – so, wie wir sie noch kennen – ist in der jetzigen Situation nicht erforderlich.“ Auch etwa für den Kampf im Cyberraum seien Wehrpflichtige „absolut ungeeignet“. Zorn sagte: „Wir brauchen gut ausgebildetes, in Teilen sogar hochspezialisiertes Personal, um das gesamte Aufgabenspektrum abzudecken.“

FDP-Chef Lindner: „Gespensterdiskussion“

Ähnlich sieht es der Militärexperte Gustav Gressel. „Eine Wehrpflichteinführung vorzubereiten, braucht Jahre“, sagt er unserer Redaktion. Sie sollte nur beschlossen werden, wenn „das breiter politischer Konsens ist und auch einen Regierungswechsel überleben würde. Sonst macht man die Armee kaputt im politischen Hickhack.“

Ein „Hickhack“ droht derzeit nicht. Denn die Forderungen nach einer Einführung sind bisher leise und vereinzelnd. FDP-Chef Christian Lindner spricht gar von einer „Gespensterdiskussion“.

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