Brevik/Berlin. Eigentlich will Deutschland Emissionen vermeiden. Doch die Zeit wird immer knapper – und eine andere Option rückt in den Blickpunkt.

Der Schnee fällt in dicken Flocken auf den Schutzhelm von Tarald Syvertsen, die Temperatur liegt unter null. Doch die Hitze der Anlage ist deutlich zu spüren. Während Produktionschef Syvertsen erklärt, wie aus Kalkstein und Zusätzen in einem aufwendigen Prozess Zement wird, dreht sich hinter ihm gemächlich der 35 Meter lange Ofen des Werks, in dem bei rund 1400 Grad Zementklinker entsteht, bevor er weiterverarbeitet wird.

Noch produziert die Anlage in Brevik, gut zwei Autostunden südlich von Oslo, Zement auf dieselbe Art wie viele andere auf der Welt – und das heißt, mit sehr hohen CO2-Emissionen. Doch künftig soll sich das ändern: Ab 2024 soll hier CO2 im großen Stil abgespalten werden. Laut Hersteller Norcem, einer Tochterfirma von HeidelbergCement, wäre es die Anlage die erste in der Zementbranche, in der das im industriellen Maßstab passiert.

400.000 Tonnen CO2 sollen pro Jahr aufgefangen und gespeichert werden

400.000 Tonnen des Gases sollen dann pro Jahr nicht mehr einfach in die Atmosphäre entweichen, sondern verflüssigt und an die norwegische Westküste verschifft werden. Dort wird das CO2 dann eingelagert, mehr als zweieinhalb Kilometer unter dem Meeresboden, unter einer dicken Schicht Schiefergestein.

CCS heißt das Schlagwort für diese Pläne, Carbon Capture and Storage. In Norwegen kommt es bereits seit Jahren zum Einsatz, und die norwegische Regierung will ausbauen: 1,7 Milliarden Euro steckt der Staat in das Projekt „Langschiff“, dass CCS im industriellen Maßstab voranbringen soll. Die Anlage in Brevik ist Teil des Projekts.

Und weil der Zeitpunkt, an dem Deutschland klimaneutral sein soll, immer näher rückt, gewinnt das Verfahren jetzt auch in Deutschland an Fürsprechern. Der wohl prominenteste von ihnen war erst in der vergangenen Woche da: Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) besuchte die Anlage in Brevik, um sich über die Pläne dort zu informieren.

Klimaneutralität: Ohne CCS wird es laut Experten nicht gehen

Bis 2045 soll Deutschland klimaneutral sein, statt 762 Millionen Tonnen Treibhausgasen pro Jahr (Stand 2021) soll dann unterm Strich eine Null stehen. Doch es gibt Prozesse, die sich ohne Ausstoß von CO2 nicht durchführen lassen – unter anderem die Produktion von Zement. Die Zementbranche sei der „Lackmustest“ für das Erreichen der Klimaneutralität, sagt Oliver Geden, Klimaexperte von der Stiftung Wissenschaft und Politik. „Die chemischen Prozesse der Herstellung sind nicht ohne Emissionen möglich, dort geht es nicht ohne eine Form von CO2-Abscheidung.“ Und auch in anderen Bereichen könnte das Verfahren nötig sein, etwa in der Grundstoffchemie oder bei Müllverbrennungsanlagen.

„Man wird CCS in großem Umfang brauchen“, sagt der Wissenschaftler. „Die große Unsicherheit ist die exakte Menge, das kann derzeit niemand seriös sagen.“

Auch das Bundeswirtschaftsministerium geht inzwischen davon aus, dass CCS (oder die Abscheidung und Nutzung von CO2, abgekürzt CCU) „in erheblichem Maßstab notwendig“ sind, will Deutschland seine Klimaziele erreichen. Noch in diesem Jahr soll deshalb eine Carbon Management-Strategie der Bundesregierung entstehen. Der Kerngedanke, in den Worten von Robert Habeck: „Lieber CO2 in die Erde als in die Atmosphäre“.

Lesen Sie hier:Klimaschutz: Habecks neuer Plan für eine „grüne“ Industrie

In Deutschland fehlen bislang praktisch alle Voraussetzungen dafür

Doch bislang fehlen dafür nahezu alle praktischen und rechtlichen Voraussetzungen. Mit Ausnahmen für Forschung und Demonstration ist CCS in Deutschland derzeit noch verboten, ebenso der Transport per Pipeline.

Es brauche unter anderem eine Bedarfsanalyse, welche Branchen die Technik nutzen können und in welchen Mengen, eine Transportinfrastruktur und die Entwicklung von finanziellen Anreizen, sagt Geden. Und nicht zuletzt eine Grundsatzentscheidung müsse getroffen werden, über den Ort der Speicherung. Forschungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) hatte sich kürzlich dafür ausgesprochen, auch in Deutschland die unterirdische Speicherung zuzulassen.

Umweltschützerinnen und -schützer allerdings sind skeptisch. Zuletzt war CCS in Deutschland vor mehr als zehn Jahren breit diskutiert worden, damals unter der Frage, ob mit der Abscheidung Kohlekraftwerke länger betrieben werden könnten.

Umweltschützer sind skeptisch - und manche Grüne sind es auch

Das ist inzwischen vom Tisch. Doch unter Umweltorganisationen bleibt die Sorge, dass die Technik effektivem Klimaschutz eher im Weg stehen könnte. Karsten Smid, Klimaexperte von Greenpeace, spricht von einer „Scheinlösung“. Die Risiken von möglichen Leckagen bei unterirdischen Speichern seien gravierend und die Haftungsfragen bei Entweichen von CO2 nach wie vor ungeklärt, sagt er. Auch der BUND kritisiert die Pläne der Bundesregierung: „Die Meere sind nicht die Müllhalde der Menschheit oder eine Deponie für Klimamüll“, sagte der BUND-Vorsitzende Olaf Bandt bei der Verabschiedung des Berichts der Bundesregierung vor dem Jahreswechsel.

Interaktiv:Klimawandel – wo die Erde unbewohnbar wird

Und auch bei den Grünen sind nicht alle überzeugt von den Plänen des Wirtschaftsministeriums. „Die Bedenken der Umweltverbände sind in der Sache richtig“, sagt Jan-Niclas Gesenhues, umweltpolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion im Bundestag. Wenn in Aussicht gestellt werde, dass freigesetzte Treibhausgase im Boden gespeichert werden können, bestehe die Gefahr, einfach weiterzumachen wie bisher. „Viel wichtiger ist es, dass wir den absoluten Ausstoß von Treibhausgasen zeitnah reduzieren“, sagt Gesenhues. Erst wenn Emissionsreduzierung und die Möglichkeiten natürlich Klimaschutzes ausgeschöpft seien, könne man auch über CCS reden. „CO2 im Boden zu speichern, kann nur die letzte Möglichkeit sein.“