Berlin. Endet der Ukraine-Krieg bald? Im Interview zeichnet Ex-Nato-General Domröse den Weg von neuen Offensiven bis zur Verhandlungslösung.

Er ist einer der gefragtesten Militärexperten in Deutschland, er beobachtet den Ukraine-Krieg seit Beginn mit den Augen eines erfahrenen Befehlshabers: Der frühere Bundeswehr- und Nato-General Hans-Lothar Domröse. Er war Stabschef der Nato-Missionen im Kosovo und Afghanistan und Oberbefehlshaber des NATO Allied Joint Force Command Brunssum/Niederlande. Im Interview skizziert Domröse die wahrscheinliche Entwicklung im Ukraine-Krieg und sagt, warum es Hoffnung auf eine Waffenruhe und eine Verhandlungslösung gibt – aber nicht sofort.

Herr Domröse, der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine geht bald ins zweite Jahr. Was erwarten Sie für 2023? Wie geht der Krieg weiter, kommt ein Ende der Sicht?

Hans-Lothar Domröse: Beide Seiten haben ihr militärisches Ziel noch nicht erreicht. Jeder wird es noch einmal versuchen. Ich rechne im Frühsommer mit einem Stillstand, an dem beide Seiten sagen: Jetzt bringt es nichts mehr.

Wird Russland noch einmal eine große Offensive starten?

Domröse: Das russische Minimalziel wären ja die vier Provinzen Cherson und Saporischschja im Süden, Donezk und Luhansk im Osten. Die hat Russland noch nicht komplett unter Kontrolle, obwohl es sie bereits annektiert hat. Die Frage ist, ob Wladimir Putin noch einmal versucht, Kiew zu erobern. Für einen erneuten Einmarsch bräuchte er große Truppen, ich halte das für unwahrscheinlich. Ich rechne eher mit strategischer Defensive: Wahrscheinlich ist ein fortgesetzter, massiver Raketenangriff, um die Ukraine unter Druck zu setzen.

Putin wird versuchen, die Energieversorgung der Ukraine zu zerstören. Die Raketenangriffe kann er lange durchhalten und damit Terror verbreiten. Und dann könnte er im Süden der Ukraine angreifen, um die vier Provinzen und den Landstreifen zur Krim abzusichern. Die Städte Cherson und Bachmut, im Norden Charkiv – da sind aus russischer Sicht weitere Kämpfe zu erwarten. Störfeuer von hinten, vorn Raumgewinn: So könnte Russland versuchen, einen ukrainischen Gegenangriff zu vereiteln. Lesen Sie auch: Winter ohne Strom? Versorgung in Odessa fällt für Wochen aus

Welche militärischen Optionen hat die Ukraine ?

Domröse: Auch die Ukraine mit ihrem enormen Widerstandswillen hat ihr Ziel noch nicht erreicht. Es gibt zu ihrem Ziel allerdings zwei unterschiedliche Verlautbarungen: Präsident Selensykyj wollte anfangs die Russen zurückdrängen auf die Linie vom 23. Februar, also vor dem russischen Angriffskrieg. Aber seit April/Mai fordert er auch frühere russische Besetzungen zurück, einschließlich der Krim.

Der ukrainische Generalstabschef dagegen fordert jetzt 5000 schwere Waffen vom Westen, um die Grenzen vom 23. Februar wiederherzustellen – er teilt also das große Ziel nicht, die Krim zurückzuholen. Die Ukraine muss, wenn sie selbst angreift, versuchen, tief in die russischen Eroberungen einzubrechen – ideal würde sie bei Melitopol oder Mariupol das besetzte Gebiet durchschneiden, eine hundert Kilometer lange Front bis zum Schwarzen Meer fräsen und zu beiden Seiten absichern, um so die russischen Linien zu durchbrechen. Auch interessant: Ukraine-Krieg: Darum könnte Wladimir Putin 2023 einlenken

Wenn das die Ziele sind, wie stehen die Chancen für die Ukraine und die russischen Angreifer?

Domröse: Beide brauchen etwas Regeneration. Es gibt Hinweise auf eine zweite Teilmobilmachung in Russland, um frische Kräfte heranzuführen. Bis zum 24. Februar, dem Jahrestag des Kriegsbeginns, werden sich beide Seiten sehr gespannt beobachten. Die gesamte Front ist rund 1200 Kilometer lang – für diese Riesenstrecke braucht man vor allem gute Aufklärung, damit man die Kräfte richtig konzentriert. Russland hat den Vorteil, dass es mehr Panzer hat und mehr Raketen einschließlich iranischer Drohnen. Sein eigenes Territorium ist geschützt. Und Putin kann nachlegen.

Für die Ukraine ist es schwieriger: Die Ukraine liegt in militärischer Ausbildung und Kreativität nach Punkten vor den Russen, ihr tapferer Kampf verdient unseren großen Respekt – aber sie können nicht ohne Panzerartillerie und Schützenpanzer angreifen oder beweglich verteidigen. Sie brauchen dafür weitere westliche Waffenhilfe.

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Im Süden müsste die Ukraine etwa 60 Kilometer in russisch besetztes Gebiet eindringen, um von dort mit ihrer Artillerie bis ans Schwarze Meer zu schießen und so die russischen Linien zu durchbrechen. Gelingt es der Ukraine nicht, tiefer in die russisch besetzten Gebiet einzudringen, hätte Russland seine Eroberungen stabilisiert. Dass die Ukraine dieses Gebiet komplett zurückgewinnt, kann ich mir schwer vorstellen – selbst wenn der Westen die verlangten schweren Waffen, vor allem Panzer und Artillerie, liefert.

Aber an weiteren Waffenlieferungen führt für den Westen kein Weg vorbei?

Domröse: Die Ukraine ist absolut abhängig von westlichen Waffenlieferungen. Wenn wir unsere Verantwortung ernst nehmen, müssen wir ihnen die schweren Waffen zur Verfügung stellen. Würden Deutschland und der Westen jetzt den Entschluss fassen, Leopard-Panzer zu liefern, würde es von der Entscheidung der Regierung bis zur Auslieferung vor Ort 40 Tage dauern. Dann ist es also Anfang oder Mitte Februar. Es ist höchste Zeit, dass die europäischen Länder, die über Leopard-Panzer verfügen, jetzt eine Koalition der Willigen bilden und gemeinsam, koordiniert liefern.

Spätestens am 24. Februar wird wieder geschossen, denn beide Seiten wollen raus aus der Sackgasse. Es ist weitsichtiger jetzt zu liefern, wenn doch klar ist, dass früher oder später mit Verzögerung sowieso geliefert wird. Irgendwann hat die Ukraine ihren letzten Panzer verloren, dann braucht sie Nachschub. Und irgendwann gibt es einen Waffenstillstand, dann braucht die Ukraine ebenfalls weitere Unterstützung und Waffen.

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    Sie rechnen also tatsächlich mit einem Waffenstillstand?

    Domröse: Ja. Wir werden im Verlauf des Jahres 2023 einen Waffenstillstand haben. Es macht keinen Sinn, weiter zu kämpfen, wenn man gar keinen Raum mehr gewinnt. Am wahrscheinlichsten tritt zwischen Februar und Mai eine Situation ein, in der beide Seiten erkennen, dass sie nicht weiterkommen. Russland könnte sagen „wir müssen nicht weiter“, die Ukraine müsste sagen „wir schaffen es nicht weiter“. Das wäre der Moment für Waffenstillstandsverhandlungen.

    Aber das bedeutet noch lange nicht Frieden. Waffenstillstand heißt: Wir beenden das Schießen. Die Verhandlungen dürften lange dauern, man benötigt einen Vermittler: Vielleicht UN-Generalsekretär Guterres, den türkischen Präsidenten Erdogan oder den indischen Präsidenten Modi – wobei sich niemand wirklich aufdrängt.

    Was müsste der Vermittler erreichen?

    Domröse: Es bleibt nur eine Verhandlungslösung, die für beide Seiten akzeptabel ist – auch wenn Putin eigentlich gern die gesamte Ukraine hätte und Selenskyj die gesamte Ukraine wieder befreien möchte. Beides wird nicht gelingen. Und Russland als Aggressor lässt sich sicher auch nicht zur Kapitulation zwingen. Es wird den 1200 Kilometer langen Streifen seiner Eroberungen nicht einfach aufgeben.

    Eine Lösung könnte zum Beispiel sein, dass Selenskyj auf die Forderung verzichtet, Gebiete wie die Krim sofort wieder in die Ukraine einzugliedern – man könnte einen Übergang vereinbaren, so wie es bei der Übergabe Hongkongs an China eines Übergangsfrist von 50 Jahren gibt. Die Bundesrepublik hat auch nie auf die deutsche Einheit verzichtet, und erst als wir sie bekamen, haben wir die Oder-Neiße-Grenze als endgültig anerkannt.

    Aber wie sicher wäre eine solche Lösung?

    Domröse: Die Schutzgarantie für die Ukraine müssen dann die Europäer mit den Amerikanern übernehmen – ähnlich der Schutzgarantie der USA für Israel. Der Westen müsste zwar keine Truppen stationieren, aber ab und zu Manöver abhalten und signalisieren: Wir sind da. Diese Garantie muss gegeben werden. Sonst würde Putin mit frischen Kräften bald wieder in die Ukraine einmarschieren.