Brüssel/Malta/Berlin. Der Asyltrend in der EU noch stärker als in Deutschland. Die größte Aufgabe liegt aber woanders, sagt die Chefin der EU-Asylbehörde.

Die Zahl der Asylbewerber in der Europäischen Union ist in diesem Jahr drastisch gestiegen. In den ersten zehn Monaten des Jahres seien in der EU fast 790.000 Asylanträge gestellt worden, sagte die Direktorin der Europäischen Asylbehörde EUAA, Nina Gregori, im Gespräch mit unserer Redaktion. Dies sei von Januar bis Oktober ein Anstieg um 54 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum, fügte sie hinzu. „Die geopolitischen Entwicklungen in diesem und im vorigen Jahr hatten direkte Auswirkungen auf das Bedürfnis an internationalem Schutz und führten zu einer zunehmenden Vertreibung in EU-Länder“, sagte Gregori.

In den letzten Monaten habe sich dieser Trend noch verstärkt. Allerdings müsse man berücksichtigen, dass die Zahl der Asylbewerber in diesem Jahr trotz des Anstiegs unter denen der Jahre 2015 und 2016 liegen werde – damals waren jeweils um die 1,3 Millionen Asylbewerber registriert worden.

In die neuen Zahlen nicht eingerechnet sind allerdings die Flüchtlinge aus der Ukraine, die nach einer EU-Entscheidung keinen Antrag auf Asyl stellen müssen: In der EU sind nach Gregoris Worten 4,7 Millionen Menschen aus der Ukraine für vorübergehenden Schutz im vereinten Europa registriert worden. Sie sagte, die Reaktion auf die russische Invasion in der Ukraine sei in diesem Jahr die größte Herausforderung gewesen, die europäischen Aufnahmesysteme seien damit „unter erheblichen Druck gesetzt“ worden. Die Aktivierung der Richtlinie über vorübergehenden Schutz habe aber den Zusammenbruch der nationalen Asylsysteme in der EU verhindert.

Die Direktorin der EU-Asylbehörde EUAA, Nina Gregori.
Die Direktorin der EU-Asylbehörde EUAA, Nina Gregori. © EUAA | EUAA

Die Entwicklung in der EU entspricht im Großen und Ganzen auch dem Trend in Deutschland. Hier waren nach Angaben des Bundesamtes für Migration bis Ende November knapp 190 000 Asylbewerber mit Erstanträgen registriert worden – ein Anstieg um 43 Prozent im Vergleich zum Vorjahres-Zeitraum, also etwas weniger als im vereinten Europa insgesamt.

Deutschland bleibt damit das Hauptzielland für Asylbewerber in der EU, in den ersten drei Quartalen des Jahres 2022 betrug der Anteil 22 Prozent - mehr als jeder fünfte Antrag wurde demnach hierzulande gestellt, was allerdings in etwa auch dem Bevölkerungsanteil Deutschlands in der Union entspricht. Auf Platz zwei liegt Frankreich, das Schlusslicht ist erneut Ungarn. Gregori betonte, der Anstieg der Asylbewerber-Zahlen werde in absehbarer Zeit anhalten

Gregori betonte, der Anstieg der Asylbewerber-Zahlen werde in absehbarer Zeit anhalten. „Instabilität und Bedrohungen der menschlichen Sicherheit sind ein Merkmal der Welt, in der wir leben. Leider sind sie nicht vorübergehend.“ Zuletzt stellten nach Behörden-Daten Migranten aus Syrien die größte Gruppe von Asylantrag-Stellern, gefolgt von Menschen aus Afghanistan und – auf Rekordhöhe – aus der Türkei.

Die neue Flüchtlingswelle ist längst ein neues Sorgenthema für die Politik in Europa. Auf allen gängigen Flüchtlingsrouten hatte der Druck in diesem Jahr zugenommen, die EU-Grenzschutzgruppe Frontex meldet einen Anstieg von illegalen Grenzübertritten um über 70 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Der größte Andrang herrscht auf der Westbalkan-Route, wo sich die Einreisezahlen mehr als verdoppelten, aber auch über das östliche Mittelmeer und die zentrale Mittelmeerroute aus Libyen oder Tunesien vor allem nach Italien kommen wieder deutlich mehr Flüchtlinge.

Mit oft fatalen Folgen: Nach Angaben der UN-Flüchtlingshilfe verloren dieses Jahr über tausend Menschen bei der Flucht übers Mittelmeer ihr Leben. EU-Innenkommissarin Ylva Johansson hat deshalb einen Aktionsplan für das zentrale Mittelmeer vorgelegt: Vorgesehen ist eine intensivere Zusammenarbeit mit Herkunfts- und Durchreiseländern, zudem soll die freiwillige Verteilung von Migranten innerhalb der EU beschleunigt werden.

„Wir können nicht weiter von Krise zu Krise agieren“, mahnt deshalb jetzt die EU-Kommission. Vizepräsident Margeritis Schinas drängt die Mitgliedstaaten, endlich das von der Kommission vorgeschlagene EU-Migrationspakt zu beschließen: Mehr Außengrenzschutz, schnelle Abschiebung von chancenlosen Asylbewerbern, eine solidarische Verteilung der anderen Flüchtlinge innerhalb Europas.

Auch die Chefin der EU-Asylbehörde drängt angesichts der Entwicklung auf Fortschritte bei dieser geplanten EU-Asyl- und Migrationsreform an. Sie begrüße die Ankündigung auf EU-Ebene, dass eine strukturelle Lösung für das Asyl- und Migrationsmanagement bis zu den Europawahlen 2024 gefunden werden solle. „Fortschritte bei diesen Themen sind wichtig“, sagt Gregori.

So begann die große Flüchtlingswelle aus der Ukraine: Bewohner der von Russland bombardierten Stadt Irpin nordwestlich von Kiew fliehen Anfang März, zwei Wochen nach Kriegsbeginn, über eine zerstörte Brücke.
So begann die große Flüchtlingswelle aus der Ukraine: Bewohner der von Russland bombardierten Stadt Irpin nordwestlich von Kiew fliehen Anfang März, zwei Wochen nach Kriegsbeginn, über eine zerstörte Brücke. © AFP | DIMITAR DILKOFF

Die Agentur EUAA mit Hauptsitz in Malta spielt dabei eine zentrale Rolle. Sie soll zur Harmonisierung der Asylsysteme und -praxis aller Mitgliedstaaten beitragen und bietet ihnen praktische, rechtliche, technische, beratende und operative Unterstützung. Erst zu Jahresanfang war die Behörde, die bisher EASO hieß, umbenannt und ihr Mandat deutlich ausgeweitet worden.

Direktorin Gregori sagte mit Blick auf die internationale Entwicklung, Größe und Umfang der EUAA - Aktivitäten seien in nur einem Jahr buchstäblich „explodiert“. Zum Jahresende habe die EUAA mit 14 Mitgliedstaaten Operationspläne unterzeichnet, 2019 seien es erst 3 Ländern gewesen. „Bis Ende des Jahres werden unsere operativen Unterstützungs- und Schulungsdienste dazu geführt haben, dass Millionen von Ukrainern Schutz erhalten, wo immer sie in Europa registriert sind. Und natürlich kommt dies zusätzlich zur kontinuierlichen Unterstützung der Mitgliedstaaten bei ihrer Asyl- und Aufnahmearbeit hinzu.“

Ebenso arbeite die Asylagentur an einem Überwachungsmechanismus, mit dem die EUAA die Mitgliedstaaten bei der Bewältigung von Herausforderungen in ihren Asylsystemen unterstützen werde. Auf dem Weg zur Umsetzung sei auch ein neuer Asylreservepool mit 500 Personen, die bei Bedarf innerhalb von wenigen Tagen in Länder entsandt werden könnten. Die EUAA-Chefin mahnte auch Fortschritte bei der geplanten EU-Asyl- und Migrationsreform an.

Sie begrüße die Ankündigung auf EU-Ebene, dass eine strukturelle Lösung für das Asyl- und Migrationsmanagement bis zu den Europawahlen 2024 gefunden werden solle; über ein Gesetzespaket zur Reform des europäischen Asylsystems wird bereits seit mehreren Jahren ergebnislos diskutiert. „Fortschritte bei diesen Themen sind wichtig“, mahnte Gregori.

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