Taipeh. Taiwan fürchtet eine Invasion Chinas – die Bevölkerung bereitet sich auf einen möglichen Krieg vor. Ein Blick in ein Land in Angst.

In Taiwan dachte man lange Zeit, ein Krieg mit China würde nicht kommen. Mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine sieht man im Inselstaat: Hunde, die bellen, können auch mal beißen. Auf der kleinen Insel bereitet man sich aufs Schlimmste vor.

So auch Wen Liu. Wenn sie von ihrer neuen Freizeitbeschäftigung erzählt, wird ihre Stimme lauter, ihr Sprechtempo höher. „Ich habe gelernt, wie man am klügsten klettert und wie die Logistik kritischer Güter funktioniert.“ Wen Liu, im Hauptberuf Professorin für Ethnologie an der Academia Sinica in Taipeh, lernt gerade eine andere Welt kennen. „Ich habe auch an einem Militärkurs teilgenommen“, erzählt sie. Und sie habe viele Personen in ihrem Bekanntenkreis, die schon mit einer Softgun trainiert hätten.

Droht ein Krieg mit China? Taiwan sieht die Gefahr

Am Telefon erzählt Wen Liu, die sich lieber nicht persönlich treffen möchte, wie sensibilisiert ihr Heimatland seit einigen Monaten ist. „Bis vor kurzem wollte niemand über Krieg sprechen.“ Jetzt aber sei das Thema an der Tagesordnung. Mehrere Nichtregierungsorganisationen haben begonnen, Kurse zur Selbstverteidigung anzubieten. „Das Teilnehmerfeld ist erstaunlich divers“, sagt Wen Liu. „Da sind längst nicht nur Militärgeeks. Auch junge Mütter. Und viele Personen, die gar nicht wirklich politisch denken.“ Menschen, die sich schützen wollten. Auch interessant: Habeck-Bericht überrascht – China könnte Taiwan bis 2027 annektieren

In Taiwan, einer 24-Millioneninsel südlich des chinesischen Festlandes, gilt die Gefahr eines Krieges dieser Tage als absolut real. Mehrmals hat Xi Jinping, der von Peking aus Festlandchina regiert, die „Vereinigung“ mit Taiwan angekündigt – notfalls unter Zwang. Und was für Viele bisher wie das Bellen eines vorlauten Hundes klang, fühlt sich seit einigen Monaten wesentlich bedrohlicher an. „Die Invasion Russlands in der Ukraine hat vielen Menschen die Augen geöffnet“, sagt Wen Liu.

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    Privatpersonen in Taiwan üben für den Krieg

    Mehr und mehr Menschen bereiten sich auf den Ernstfall vor. Man sieht es nicht nur an den Verteidigungskursen, die sich offenbar großer Nachfrage erfreuen. Auch die politische Debatte ist vom Kriegsszenario geprägt. Parlamentarier fordern längere Haftstrafen für Personen, die mit Akteuren aus Festlandchina auf eine Weise kooperieren, die die Sicherheit Taiwans gefährde. Zudem könnte der Wehrdienst auf ein Jahr erhöht werden. Häufig ist zu hören, wie Personen mit einer anderen Meinung entweder Verharmlosung oder Kriegstreiberei vorgeworfen wird.

    Ein Militärstützpunkt Taiwans, nur wenige Kilometer von Festland-China entfernt. Der Konflikt um die Insel verschärft sich.
    Ein Militärstützpunkt Taiwans, nur wenige Kilometer von Festland-China entfernt. Der Konflikt um die Insel verschärft sich. © Sam Yeh / AFP

    Auf den ersten Blick wirken die Chancen für Taiwan winzig: Festlandchina, das das demokratisch regierte Taiwan als Teil seines eigenen Territoriums betrachtet, ist flächen- und bevölkerungsmäßig schier unendlich größer. Entsprechend hat Peking ein viel stärkeres Militär, was auch die jüngsten Aufrüstungsversuche der taiwanischen Regierung kaum wettmachen. Andererseits: Aus den USA und Japan wurde zu verstehen gegeben, dass man im Fall einer Invasion durch Peking auf der Seite Taiwans stünde. Und der Ukraine-Krieg hat gezeigt, was militärische Unterstützung ausmachen kann.

    Taiwan im Konflikt mit China: Die Ursprünge liegen mehr als 70 Jahre zurück

    Der Taiwan-Konflikt hat seinen Ursprung im Chinesischen Bürgerkrieg, der 1949 mit dem Sieg der Kommunisten endete. Deren Gegner, die Unterstützer der Nationalistischen Partei (KMT) und ihres Anführers Chiang Kai-shek, waren unterdessen auf die Insel Taiwan geflohen, planten von hier aus die Rückeroberung des Festlandes. Je mehr Zeit verging, desto heimischer wurden die Nationalisten in Taiwan. Doch als in Festlandchina das große Wirtschaftswunder begonnen hatte, wurden dort allmählich auch die Ansprüche auf Kontrolle über Taiwan lauter. Lesen Sie dazu: Ein China, zwei Staaten – Wie der Taiwan-Konflikt begann

    Taiwan, wo nach dem Tod von Chiang ab den 1980er Jahre der Übergang von einer Militärdiktatur in eine Demokratie gelang, ist heute zutiefst gespalten. Zurück in die Diktatur will offiziell niemand, auch eine Rückeroberung Festlandchinas wird nicht mehr gefordert. Aber die harte Linie, die Präsidentin Tsai Ing-wen und ihre Demokratische Fortschrittspartei (DPP) gegenüber Peking fahren, gefällt nicht jedem.

    Taiwans Präsidentin Tsai Ing-wen.
    Taiwans Präsidentin Tsai Ing-wen. © REUTERS | HANDOUT

    Kritik an der Regierung Taiwans: "Das ist sehr unklug"

    „Die DPP versteht nicht, wie man eine gute Verbindung zu Peking unterhält“, sagt Chieh-cheng Huang. In einem Besprechungszimmer der National Policy Foundation, einem Thinktank der heute oppositionellen KMT, lässt er kein gutes Haar an Tsai. „Ihre Partei wirbt damit, China zu provozieren. Das ist sehr unklug!“ Tsai habe einen klugen Wahlkampf gemacht, betreibe aber dumme Politik. Zugleich müsse sie sich zu den NGOs positionieren, die nun die Bevölkerung trainieren und damit eigentlich Staatsaufgaben übernähmen. „Aber von der Präsidentin ist nichts zu hören!“ Lesen Sie auch den Kommentar: Konflikt zwischen China und Taiwan – Das Ende aller Illusionen

    Auch die neuen Selbstverteidigungskurse, die von wohlhabenden Patrioten finanziert, aber ohne intensiven Kontakt zum Verteidigungsministerium unterhalten werden, hält Chieh-cheng Huang – ein Mann mit grauem Haar und Hosenträgern – für naiv. Von einer Assistentin lässt er sich eine Camouflage-Jacke ins Zimmer bringen. „Das hier ist meine Jacke. Aber bin ich ein Krieger, weil sie Tarnmuster hat?“ Gerade jetzt müsse man deeskalieren, so Huang. „Wir haben seit 64 Jahren keinen bewaffneten Konflikt gehabt, China seit 1979 nicht. Wir beide würden wie Amateure kämpfen! Was soll das?“

    Chieh-cheng Huang hält nichts von der China-Politik der taiwanesischen Regierung.
    Chieh-cheng Huang hält nichts von der China-Politik der taiwanesischen Regierung. © Felix Lill | Felix Lill

    Zwei Drittel der Bevölkerung würden für Taiwan in den Krieg ziehen

    Kaum jemand würde Huang widersprechen. Dabei zeigte eine Umfrage des taiwanischen Magazins „Global Views Monthly“ im September, dass fast zwei Drittel der taiwanischen Bevölkerung einen Krieg befürchten. Zudem sorgen sich mehr als 55 Prozent der Unternehmen, durch die Spannungen auf dem wichtigen Markt in Festlandchina diskriminiert zu werden. Und Mitte des Jahres ergab eine Umfrage des Instituts für Nationale Verteidigung und Sicherheitsstudien, dass fast drei Viertel der Menschen für Taiwan in den Krieg ziehen würden. Gut die Hälfte wäre im Kriegsfall auch optimistisch.

    Dazu gehört Wen Liu. „Ich glaube, Taiwan hat eine gute Chance, sich selbst zu verteidigen“, sagt sie mit Entschlossenheit in der Stimme. „Grundsätzlich ist es schonmal schwierig, eine Insel zu erobern.“ Anders als bei Russlands Invasion in der Ukraine ließe sich Taiwan nicht mit Panzern einnehmen. Die Rolle von Streitkräften in der Luft und auf dem Wasser wäre größer. Und Liu, die sich seit einiger Zeit vermehrt mit Verteidigungsexperten austauscht, glaubt, dass Taiwan auch Dank möglicher Hilfe anderer Staaten gut aufgestellt wäre.

    Taiwans Parteien in der China-Politik zerstritten

    Mehr Sorgen als das Militärische macht ihr die politische Situation. „Wir sind so zerstritten. Wie stark wir im Kriegsfall wären, hängt auch davon ab, wer dann gerade regiert.“ Wen Liu, die der derzeit regierenden DPP nahesteht, wäre weniger optimistisch, falls die KMT an der Macht wäre. „Der politische Wille, wirklich zu kämpfen, wäre dann geringer, fürchte ich.“ Seitens der oppositionellen KMT beteuert man eher, ein Krieg würde dann gar nicht erst beginnen.

    In einer Sache scheinen sich beide Lagern einig zu sein: Sofern Peking wirklich eine Invasion startet, käme es auf den Zusammenhalt aller Menschen in Taiwan an. Und dann wäre jede Vorbereitung der Bevölkerung besser als gar keine.