Ankara. Bei der nächsten Wahl in der Türkei könnte Erdogan scheitern. Wie Istanbuls Bürgermeister Imamoglu trotz Politikverbots siegen kann.

Sechs türkische Oppositionsparteien suchen einen gemeinsamen Kandidaten, der bei der Präsidentenwahl im kommenden Jahr Staatschef Recep Tayyip Erdogan schlagen kann. Der Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem Imamoglu war lange Zeit einer der aussichtsreichsten Herausforderer. Jetzt hat die Justiz Erdogans Angstgegner zu einem Politikverbot verurteilt. Wird er damit kaltgestellt? Oder bekommt er Rückenwind? Wie Imamoglu doch noch siegen kann.

Gericht verhängt Haftstrafe: Das macht Imamoglu

Istanbuls Oberbürgermeister Ekrem Imamoglu sitzt gerade in seinem Büro mit Meral Aksener zusammen, der Vorsitzenden der rechtsgerichteten IYI-Partisi („Gute Partei“), als ihm am vergangenen Mittwoch ein Assistent das Smartphone mit der Eilmeldung reicht. Das Urteil ist gefallen. „Zwei Jahre, sieben Monate und drei Tage“, sagt der Mitarbeiter. Das ist die Haftstrafe, die ein Istanbuler Gericht gegen das Stadtoberhaupt verhängt hat, wegen Beleidigung staatlicher Organe. „Das haben sie gerade verkündet?“, versichert sich Imamoglu. „Was bedeutet das?“, fragt Aksener. „Ein Politikverbot“, sagt Imamoglu. Aksener steht auf, geht auf Imamoglu zu und umarmt ihn. „Komm her, jetzt legen wir los!“ Lesen Sie hier: Gericht verhängt Politikverbot für Erdogan-Rivalen Imamoglu

Erdogan hat einen Angstgegner. Aus diesen Grund könnte Imamoglu die Wahl gewinnen
Erdogan hat einen Angstgegner. Aus diesen Grund könnte Imamoglu die Wahl gewinnen © Yasin AKGUL / AFP

Erdogan schwächelt: Wirtschaftskrise treibt Menschen in die Armut

Im Juni sollen die Türkinnen und Türken ein neues Parlament und einen Staatspräsidenten für die nächsten fünf Jahre wählen. Für den Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan wird der Urnengang zur Schicksalswahl. Seit 20 Jahren bestimmt er die Geschicke der Türkei, erst als Premierminister, seit 2018 als Präsident mit nahezu unumschränkter Machtfülle.

Bisher hat er keine Wahl verloren. Aber jetzt schwächeln Erdogan und seine regierende islamisch-konservative AKP in den Umfragen. Die Wirtschaftskrise, die immer mehr Familien in die Armut treibt, bringt den Staatschef in die Defensive. Geht die Ära Erdogan zu Ende?

Er will es noch einmal wissen: Vor einer Woche bat er auf einer Kundgebung in der Schwarzmeerstadt Samsun um das „Vertrauen der Nation“ bei der bevorstehenden Wahl, „ein letztes Mal“, wie er hinzufügte. Am Ende der nächsten Amtszeit wäre Erdogan 73 Jahre alt. Dann will er „den Weg für die Jugend freimachen“.

Noch ist Erdogan Türkeis Staatspräsident. Doch das könnte sich mit der nächsten Wahl ändern.
Noch ist Erdogan Türkeis Staatspräsident. Doch das könnte sich mit der nächsten Wahl ändern. © Adem ALTAN / AFP

Gegen Erdogan: Sechs Oppositionsparteien wollen ihn stürzen

Aber sechs Oppositionsparteien wollen nicht so lange warten, sondern Erdogan mit vereinten Kräften aus dem Amt hebeln. Bisher hat sich der „Tisch der Sechs“, wie sich das Oppositionsbündnis nennt, noch nicht auf einen gemeinsamen Präsidentschaftsbewerber einigen können. Die Kandidatenkür ist schwierig, denn die Allianz bildet ein sehr breites Spektrum ab. Es reicht von der sozialdemokratisch-kemalistischen CHP, der größten Oppositionspartei, über die liberal-konservative Demokratische Partei bis hin zu Akseners weit rechts stehender IYI und der islamistischen Glückseligkeitspartei. Auch zwei Erdogan-Abtrünnige sind mit von der Partie, Ex-Premier Ahmet Davutoglu mit seiner Zukunftspartei und der frühere „Wirtschaftszar“ Ali Babacan als Chef der Partei für Demokratie und Fortschritt. Auch interessant: Nach Anschlag in Istanbul: Erdogan spürt Rückenwind

Antreten gegen Erdogan soll jener Kandidat, der die besten Aussichten hat, ihn zu schlagen. Der langjährige CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu bringt sich selbst immer wieder als Kandidat ins Gespräch. Der 74-Jährige gilt zwar als redlich, ist aber farblos. Bessere Chancen geben die Meinungsforscher zwei populären CHP-Kommunalpolitikern: Mansur Yavas, der als Bürgermeister in der Hauptstadt Ankara amtiert, und Ekrem Imamoglu.

Imamoglu: Deswegen hat Erdogan Angst vor ihm

Für Erdogan ist vor allem Imamoglu ein Angstgegner. 2019 gewann er die Bürgermeisterwahl in Istanbul gegen den AKP-Kandidaten Binali Yildirim, einen engen Erdogan-Vertrauten. Für Erdogan war der Wahlausgang auch eine persönliche Schmach, denn er betrachtet Istanbul als seine Stadt. Hier begann er als Bürgermeister 1994 seine politische Karriere. „Wer Istanbul gewinnt, gewinnt die Türkei“, heißt es.

Imamoglu: Warum er trotz des Politikverbots siegen könnte

Sollte Erdogan gehofft haben, die Justiz könnte Imamoglu mit dem Politikverbot kaltstellen, hat er sich möglicherweise getäuscht. Das Urteil schweißt die Oppositions-Allianz zusammen. Für Erdogan müsste es eigentlich ein Déjà Vu-Erlebnis sein.

Keiner weiß besser als er, dass ein Politikverbot ein Sprungbrett sein kann. 1998 verhängte ein Gericht gegen ihn ein politisches Betätigungsverbot wegen religiöser Hetze. Die Strafe machte ihn in den Augen seiner Anhänger zu einem politischen Märtyrer und gab seiner Popularität einen gewaltigen Schub. Nach dem Wahlsieg vom November 2002 hob die AKP mit ihrer Mehrheit im Parlament das Politikverbot auf, und Erdogan wurde Ministerpräsident.

Das könnte passieren, wenn Imamoglu die Wahl gewinnt

Der Politik-Bann gegen Imamoglu tritt nur in Kraft, wenn ein Berufungsgericht das Urteil bestätigt. Das kann viele Monate oder gar Jahre dauern. Die Parteiführer am „Tisch der Sechs“ wollen voraussichtlich im Januar ihren gemeinsamen Kandidaten küren. Imamoglu schließt eine Kandidatur nicht aus, drängt sich aber nicht nach vorn: „Ich sehe mich als Mitspieler im Team gegen Erdogan“, sagte er jetzt dem Sender „Haber Türk“. Ob er kandidiere, entscheide nicht er selbst. „Die Entscheidung liegt bei den Parteivorsitzenden“, so Imamoglu.

Fällt ihre Wahl auf Imamoglu, könnten sie zusätzlich einen Ersatzmann nominieren, der einspringt, wenn das Urteil gegen Imamoglu kurz vor der Wahl rechtskräftig wird.

Der Oberbürgermeister gibt sich kämpferisch: „Ich lasse mich nicht einschüchtern, ich gebe nicht auf.“ Aber sicher ist das nicht. Wenn Imamoglu zum Staatspräsidenten gewählt wird und das Berufungsgericht danach das Politikverbot bestätigt, würde er sein Amt wieder verlieren. Kommt es dazu, müssten innerhalb von sechs Wochen Neuwahlen stattfinden.