Berlin . Unternehmen sind verpflichtet, die Arbeitszeit ihrer Mitarbeiter zu erfassen. Warum Betriebe unter Druck geraten – und Minister Heil.

Seit Jahren weiß die deutsche Wirtschaft, dass die Arbeitszeiterfassung auf sie zukommt; seit einem Urteil im September, dass Betriebe dazu verpflichtet sind – und seit wenigen Tagen, dass die Unternehmen es sich zu einfach machen würden, wenn sie bloß auf ein Gesetz warten.

Der Richterspruch des Bundesarbeitsgerichts, am Wochenende auf die Internetseite gestellt, dürfte die Arbeitswelt von Millionen Deutschen verändern. Arbeitsminister Hubertus Heil gerät unter Handlungsdruck.

Gegenüber unserer Redaktion kündigte das Ministerium des SPD-Politikers an, "voraussichtlich im ersten Quartal 2023" werde Heil einen "Vorschlag" für die Ausgestaltung machen. Das erwarten die Ampel-Parteien von ihrer Bundesregierung und von Kanzler Olaf Scholz (SPD), der ein langjähriger Arbeitsrechtler ist und als Anwalt viele Betriebsräte beraten hat. Die wichtigsten Fragen im Überblick.

Arbeitszeiterfassung: Kommt der Richterspruch überraschend?

Ja und Nein. Nach EU-Recht stand die Pflicht längst außer Frage. Die Bundesregierung hatte sie bislang allerdings nicht in nationales Recht umgesetzt. Nach Lektüre des Urteils wird nun klar, dass die Zeiterfassung ab sofort gilt. Von einer Übergangsfrist kann keine Rede sein.

Heißt es jetzt: Zurück zur Stechuhr?

Nicht unbedingt. In den Betrieben besteht laut Gericht erstens "eine objektive gesetzliche Handlungspflicht", die Arbeitszeit zu erfassen. Zweitens: Ob über Stechuhr, App, Excel-Tabelle im PC oder schlicht auf Papier – das Wie ist den Tarifpartnern überlassen. Jedenfalls genügt es nicht, ein System zur Zeiterfassung bereitzustellen. Darauf hatte schon der Gerichtshof der EU 2019 Wert gelegt. Die Arbeitszeit muss vielmehr tatsächlich festgehalten werden. Zum Schutz der Gesundheit der Arbeitnehmer sei ein "objektives, verlässliches und zugängliches" System einzuführen: Schutz vor zu vielen Überstunden, vor Missachtung von Ruhepausen.

Arbeitszeit muss erfasst werden: Gerät Heil unter Zeitdruck?

Wenn der Minister gestalten will, muss er sich sputen. Umgekehrt: Solange der Gesetzgeber nichts vorgegeben hat, ist der Spielraum der Tarifpartner besonders groß. Heil will die Urteilsbegründung "eingehend prüfen und uns anschauen, welche Konsequenzen sich daraus für den Gesetzgeber im Einzelnen ergeben." Er hat die 22 Seiten lange Urteilsbegründung mitnichten vor der Öffentlichkeit bekommen.

Gilt das Urteil für jeden Arbeitnehmer?

Für Führungskräfte lässt das Gericht ausdrücklich eine Ausnahme offen, wenn es eine nationale Ausnahmeregelung gibt, zum Beispiel, "weil die Dauer ihrer Arbeitszeit wegen besonderer Merkmale der Tätigkeit nicht bemessen und/oder vorherbestimmt ist". Denkbar wäre auch, dass die Zeiterfassungspflicht nach Größe eines Betriebes geregelt wird; schon um den bürokratischen Aufwand für kleinere Betriebe zu minimieren.

Wie groß ist der Spielraum der Arbeitgeber?

Sie könnten die Regelung sogar ihren Beschäftigten überlassen. Solange vom Gesetzgeber (noch) keine konkretisierenden Regelungen getroffen seien, bestehe "ein Spielraum", erklärten die Richter ausdrücklich. So versteht man auch besser Heils Eile. Und: Die Ausgestaltung lasse Raum "für eine Mitbestimmung des Betriebsrates", betonte das Erfurter Gericht.

Wie groß ist der Veränderungsdruck?

Man schätzt, dass nur bei etwa jedem dritten Arbeitnehmer in Deutschland bereits die Arbeitszeit erfasst wird. Zur Wahrheit gehört, dass keine konkreten Geldbußen bei Verstößen vorgeschrieben sind. Auch sie gehören zu Heils Bringschuld. Druck dürften die Arbeitgeber allerdings von unten erfahren: in Unternehmen mit Betriebsräten. Für die Betriebe geht es darum, ob sie agieren oder reagieren. Vermutlich werden viele anfangen, sich auf die Erfassung der Arbeitszeit ihrer Angestellten vorzubereiten.

Wie sind die Reaktionen aus dem Bundestag?

Viele Abgeordnete waren sensibilisiert, haben das endgültige Urteil allerdings noch nicht auf dem Schirm. Der arbeitsmarktpolitische Sprecher der Grünen-Fraktion, Frank Bsirske, lobte den Richterspruch. Er stelle sicher, "dass Höchstarbeitszeiten und die Ruhezeiten eingehalten werden". Der frühere Verdi-Vorsitzende betonte schon am Wochenende, bei der anstehenden gesetzlichen Regelung solle "ein gewisses Maß an flexiblen Arbeitszeitmodellen, etwa Vertrauensarbeitszeit, weiterhin möglich sein". Dabei erfassen und teilen sich Beschäftigte die Arbeitszeit selbst ein.

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Dieser Artikel erschien zuerst bei morgenpost.de.