Peking. Revoltierende Arbeiter, verängstigte Hauptstadtbewohner: Auf die steigenden Corona-Zahlen antwortet China mit Lockdowns und Quarantäne.

Erneut sind die Arbeiter des Foxconn-Werks in Zhengzhou auf die Straße gezogen: Am Mittwochmorgen flohen hunderte aus ihren Wohnheimen und zerschlugen Überwachungskameras, Corona-Teststationen und Polizeiautos.

Die chinesische Staatsmacht reagierte mit übertriebener Härte: 20 Mannschaftswagen fuhren binnen Minuten zum Ort des Geschehens, wo die Polizisten – in weiße Seuchenschutzanzüge gekleidet – mit Schlagstöcken und Fußtritten auf die Fabrikarbeiter eindroschen.

China: Viel Frust nach drei Jahren Pandemie

Da die Zensoren sämtliche Aufnahmen umgehend aus dem chinesischen Internet löschten, zeigten sich die unwissenden Anwohner in der Provinzhauptstadt Zhengzhou irritiert: Manche gingen davon aus, dass es sich bei der blutigen Massenschlägerei um ein Filmset handeln würde.

Doch tatsächlich entlädt sich hier der Frust, welcher sich innerhalb fast drei Jahren „Null Covid“ aufgestaut hat. In der riesigen Foxconn-Anlage, wo über 200.000 Arbeiter ein Großteil der neuesten iPhone-Modelle weltweit produzieren, herrschen laut Augenzeugen menschenunwürdige Bedingungen.

Die Werktätigen leben schließlich seit Monaten in einem sogenannten „closed loop System“: streng isoliert, ohne ausreichende medizinische Versorgung und nur mit dem Nötigsten zum Essen. Nun haben ausbleibende Bonus-Zahlungen das Fass endgültig zum Überlaufen gebracht.

Chinas Hauptstadt Peking hat Stadtparks geschlossen und andere Einschränkungen verhängt, da das Land mit einer neuen Welle von COVID-19-Fällen konfrontiert ist.
Chinas Hauptstadt Peking hat Stadtparks geschlossen und andere Einschränkungen verhängt, da das Land mit einer neuen Welle von COVID-19-Fällen konfrontiert ist. © Andy Wong/AP/dpa

Trotz Lockdowns: Coronazahlen in China steigen

Ihr Stress ist allerdings nur die Spitze des Eisbergs. Denn trotz der massiv zunehmenden Lockdowns steigen die Corona-Ansteckungen in China seit Wochen weiter an. Am Donnerstag wird die Volksrepublik aller Voraussicht nach die höchsten Infektionszahlen seit Beginn der Pandemie melden. Neben den wirtschaftlich bedeutsamen Provinzen Sichuan, Chongqing und Guangdong zählt auch die Hauptstadt Peking zu den Corona-Epizentren des Landes.

Dort ist der Alltag der Leute zu einem tristen Dasein verkommen: Nur jene Geschäfte, die als essenziell gelten, haben weiterhin geöffnet. Sämtliche Bars, Museen, Parks oder Schulen sind geschlossen.

Nordöstlich des fünften Stadtrings, wo die Metropole allmählich in staubtrockene Landstraßen und ärmliche Dörfer ausfranst, betreiben die Behörden mehrere Quarantäne-Lager. Eines von ihnen befindet sich ausgerechnet in jenem Kongresszentrum, wo noch vor über zwei Jahren die Pekinger Automesse veranstaltet – und als fulminanter Sieg Chinas gegen das Coronavirus gefeiert wurde. Nun sind in jenen Messehallen rund 1.50 0 Betten für „milde Corona-Fälle“ aufgestellt worden.

China: Absperrungen von Corona-Siedlungen

An diesem Novembernachmittag wirkt das Gelände wie eine Geisterstadt. Wer durch die weißen Gitterstäbe auf das riesige Areal schaut, sieht ein paar vereinzelte Gesundheitsmitarbeiter in ihren Ganzkörperanzügen, die die Abfälle der Covid-Infizierten in knallgelben Mülltüten hinausbringen.

An einem Ausgang sitzen ein paar dutzend Chinesen hockend am Straßenrand, ihr Hab und Gut in riesige Plastikbeutel verteilt. Sie wurden soeben zurück in die Freiheit entlassen und warten nun auf ihr Taxi nach Hause.

Doch immer mehr Siedlungen werden Tag für Tag abgesperrt. Allein am Mittwoch hat der Bezirk Chaoyang rund dreihundert Wohnhäuser abgeriegelt worden. Auch das noble Westin Hotel, nur einen Steinwurf vom Diplomatenviertel entfernt, hat es unverhofft getroffen: Keine der Hotelgäste durfte mehr das Gebäude verlassen.

Nur wer zufällig gerade draußen unterwegs war, als die Lockdown-Order ausgegeben wurde, konnte sich in ein anderes Hotel flüchten – freilich ohne sein Gepäck vorher abholen zu können. Sämtliche der Schließungen dienen als Beweis, dass China trotz der jüngsten Hoffnungen auf eine Öffnung zu seiner altbewährten Lockdown-Strategie zurückkehrt.

Zwangsquarantäne: Verzweiflung bei vielen Chinesen

Doch neben den wirtschaftlichen Schäden, die die Bevölkerung zunehmend zu spüren bekommt, hat sich innerhalb vielen Pekingern ein tiefes Ohnmachtsgefühl breitgemacht. Eine junge Europäerin berichtet, dass sie über Nacht in der Wohnung ihres Freundes eingesperrt wurde, nachdem dort einer der Nachbarn positiv auf das Coronavirus getestet wurde.

Und eine Chinesin in ihren 20ern, die nach ihrer Infektion umgehend in ein Quarantäne-Spital transferiert wurde, erzählt, wie sie verzweifelt sämtliches Trockenfutter und Katzensand auf den Boden ihres WG-Zimmers gestreut habe – in der Hoffnung, dass ihre Haustiere die Zeit überleben werden, ehe sie wieder aus der Zwangsquarantäne entlassen wird.

Am stärksten jedoch sind die Lieferkuriere von den Maßnahmen betroffen. Etliche von ihnen können derzeit nicht in ihren Wohnunterkünfte bleiben. Sie hausen notgedrungen in Zelten oder tun sich zusammen, um in günstigen Herbergen ein Zimmer zu teilen.

In einem Wechat-Posting hat ein chinesischer Nutzer den Frust der Bevölkerung mit dem Titel „zehn Fragen an die nationale Gesundheitskommission“ aufgeschrieben. Sein Text wurde umgehend millionenfach geteilt. „Welchen Preis müssen wir zahlen, um ein unsichtbares Virus zu eliminieren?“, heißt es in dem Posting. Oder: „Denkt die Gesundheitskommision, dass es in Ordnung ist, ganze Regionen wie Xinjiang oder Tibet monatelang abzuriegeln?“.

Doch wie zu erwarten, haben die Behörden die Debatte gar nicht erst zugelassen. Statt Antworten zu geben, reagierten sie mit flächendeckender Zensur: Nach wenigen Stunden waren sämtliche Postings gelöscht.

Dieser Artikel erschien zuerst bei morgenpost.de.