Brüssel/Przewodow. Trauer und Sorge nach der Raketenexplosion in Polen. Wie ist die Lage am Unglücksort, wie reagieren Nato, Russland und die Ukraine?

Die beiden Männer im ostpolnischen Grenzdorf Przewodow haben keine Chance. Der 62jährige Lagerarbeiter Bogdan W. und der 60-jährige Traktorfahrer Bogdan C. sind gerade vor dem Getreidespeicher auf dem Hof einer früheren LPG beschäftigt, als aus Richtung Osten eine Rakete auf das Gelände stürzt.

Der Knall ist Kilometer weit zu hören, eine riesige Rauchsäule steigt auf, wie später auf Videos zu sehen ist. Das Gebäude wird schwer beschädigt, ein Traktor-Anhänger stürzt um, die Explosion reißt einen tiefen Krater in den Hof. Die beiden Männer überleben nicht.

Marek Kachel hat Glück: Vor wenigen Wochen habe man ihm eine Arbeit in der Getreidetrocknungsanlage angeboten, er sollte diese Woche anfangen, erzählt der 39-Jährige unserer Redaktion. Seine Wohnung liegt nicht weit entfernt von der Unglücksstelle, das Haus hat gewackelt, Fensterscheiben sind zerbrochen, aber ihm passierte nichts.

Für einen Moment habe er an Gasflaschen gedacht, die explodierten, sagt Kachel. Doch dann ertönte die Sirene in dem kleinen Dorf, wenige Minuten später rasten erst Einsatzwagen mit Blaulicht und Sirenen durch Przewodow, dann ein Konvoi von Transportern und Militärfahrzeugen.

Augenzeuge Marek Kachel wohnt nur unweit der Einschlagsstelle – die Explosion konnte er spüren.
Augenzeuge Marek Kachel wohnt nur unweit der Einschlagsstelle – die Explosion konnte er spüren. © Reto Klar/ Funke Foto Services

Raketeneinschlag in Przewodow: Die Angst spürt man auch am Tag danach

Przewodow liegt etwa fünf Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt, 60 Kilometer Luftlinie sind es bis zur westukrainischen Stadt Lwiw, die am Unglücks-Nachmittag Ziel eines massiven russischen Raketenangriffs ist. Haben die Russen auch Polen beschossen – als gezielte Provokation oder aus Versehen? Anfängliche Berichte mit dieser Vermutung lösen international große Bestürzung aus. Es wäre das erste Mal während des Ukraine-Kriegs, dass eine russische Rakete auf Nato-Gebiet niedergeht – was eine ernste Krise auslösen könnte, im schlimmsten Fall einen Gegenschlag des Westens. Die polnische Regierung versetzt die Streitkräfte in erhöhte Alarmbereitschaft, der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj spricht von russischem Terror.

„Ich dachte nicht an einen Angriff auf Polen, aber befürchtete schon lange, dass ein Unglück passieren könnte“, sagt Dorfbewohner Kachel. „Ich fühle mich unsicher hier“, sagt er. Diese Angst spürt man auch noch einen Tag nach dem Einschlag. Einwohner huschen von Haus zu Haus. Die Polizei sperrt die eine Straße, die zum Anwesen führt. Immer wieder marschieren bewaffnete Soldaten an den Polizisten vorbei. Einwohner, die hinter der Absperrung wohnen, müssen ihre Ausweise vorzeigen, um durchgelassen zu werden.

Polnische Polizei im Dorf Przewodow.
Polnische Polizei im Dorf Przewodow. © Reto Klar / Funke Foto Services

Nato-Analyse: Wahrscheinlich waren es eine ukrainische Luftabwehrrakete

Doch gegen Mittag gibt es vorsichtige Entwarnung: „Unsere vorläufige Analyse legt nahe, dass der Vorfall wahrscheinlich durch eine ukrainische Luftverteidigungsrakete verursacht wurde“, sagt Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg in Brüssel nach einer Krisensitzung des Nato-Rates. Die Rakete sei abgefeuert worden, „um ukrainisches Territorium gegen russische Marschflugkörperangriffe zu verteidigen“.

Es gebe „keinen Hinweis auf einen vorsätzlichen Angriff“ auf Polen und auch keinen Hinweis darauf, dass Russland offensive militärische Aktionen gegen die Nato vorbereitet. Fast zeitgleich stellt in Warschau auch der polnische Präsident Andrzej Duda klar: „Nichts, absolut nichts, deutet darauf hin, dass es sich um einen absichtlichen Angriff auf Polen handelte“. Auch Duda spricht von „hoher Wahrscheinlichkeit“, dass es sich um eine fehlgelenkte ukrainische Flugabwehrrakete handelt

Im strömenden Regen sichert polnisches Militär die Einschlagstelle.
Im strömenden Regen sichert polnisches Militär die Einschlagstelle. © Reto Klar / Funke Foto Services

Die Untersuchungen auch durch Experten westlicher Geheimdienste laufen noch, aber alle Indizien sprechen für einen solchen Unfall: In den Trümmern lagen Teile einer S-300 Rakete – ein russisches Waffensystem, das auch zentraler Pfeiler der ukrainischen Luftabwehr ist. Die Raketen haben nur eine Reichweite von 200 bis 300 Kilometern. Ausgeschlossen, dass sie im über tausend Kilometer entfernten Russland abgeschossen wurden. Das Radar eines US-Überwachungsflugzeugs hat zudem die Flugbahn der Geschosse erfasst.

„Es ist nicht Schuld der Ukraine“, sagt Nato-Generalsekretär Stoltenberg

Vermutlich, hieß es schon in der Nacht zu Mittwoch aus US-Geheimdienstkreisen, hätten ukrainische Soldaten die Rakete abgefeuert, um die russischen Angriffe auf Energieanlagen abzuwehren. So erklärt es US-Präsident Joe Biden auch den Regierungschefs von Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien, Großbritannien, Kanada und Japan bei einem Krisentreffen, zu dem er am Morgen am Rande des G20-Gipfels im indonesischen Bali einlädt. Die Führer der westlichen Staaten sind sich danach einig: Keine Vorwürfe an die Ukraine, vielmehr verurteilt die Spitzenrunde die „barbarischen Raketenangriffe“ Russlands auf ukrainische Städte und zivile Infrastruktur.

Das ist auch die Linie beim Brüsseler Nato-Treffen: „Es ist nicht die Schuld der Ukraine“, meint Bündnis-Chef Stoltenberg. „Die Ukraine hat das Recht, diese Raketen abzuschießen. Russland trägt die Verantwortung, denn es ist die direkte Folge des Krieges und der jüngsten Angriffswelle.“ Im Hauptquartier der Allianz heißt es, ein solcher einzelner Einschlag sei von der Luftabwehr schwer zu verhindern.

Doch soll Polen jetzt von der Nato mehr Unterstützung bei der Sicherung des Luftraums erhalten. Die Bundesregierung etwa bietet umgehend den Einsatz von Eurofightern der Bundeswehr über Polen an. Für die versammelten Botschafter der 30 Nato-Staaten ist der Vorfall kein Anlass für eine Neubewertung der Sicherheitslage, eher eine Mahnung, wie groß die ständige Gefahr einer Eskalation im Ukraine-Krieg ist.

Seit Beginn des russischen Angriffs ist das Bündnis im Alarmzustand: „Es besteht immer das Risiko, dass Russland versehentlich ein US-Aufklärungsflugzeug irgendwo an der Grenze abschießt oder eine russische Rakete in Polen oder Rumänien landet“, sagt ein Nato-Militär. Lesen Sie auch den Kommentar: Die vier Lehren aus dem Beschuss in Polen

Angst vor Zwischenfällen: Washington und Moskau haben einen heißen Draht

Eine einzige falsche Reaktion, ein Missverständnis könnte zum großen Krieg führen. „Es muss nur eine Rakete auf Irrflug gehen und ein Nato-Schiff treffen, dann wird es gefährlich“, warnt auch der frühere Oberkommandierende der Nato-Truppen in Europa, James Stavridis. In Friedenszeiten gibt es für Zwischenfälle einen belastbaren Draht zwischen führenden Militärs der Nato und Russlands, der in der Ukraine-Krise aber gelitten hat. Dafür unterhält die US-Regierung seit acht Monaten eine Hotline mit dem Kreml, um militärische Zwischenfälle und Notsituationen ohne Verzögerung zu klären, was Washington erst kürzlich nach monatelangen Dementis zugab.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Bislang bilanzieren Nato-Diplomaten, Russland vermeide es offenkundig sorgsam, eine rote Linie zu überschreiten und den Westen militärisch zu provozieren. Käme es zu einem bewaffneten Angriff auf ein Nato-Land, würde die Allianz sofort reagieren – und bei entsprechender Informationslage den Bündnisfall ausrufen. Alle Nato-Staaten müssten dann – mit selbst gewählten Maßnahmen – das angegriffene Land unterstützen. In die Länder der Nato-Ostgrenze hat das Bündnis inzwischen über 40.000 Soldaten verlegt, über hundert Kampfflugzeuge sind in ständiger Alarmbereitschaft.

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Rakete trifft Polen: Die Ukraine sieht die Schuld weiter bei Russland

Die Nato so zu provozieren, dass sie die Unterstützung für die Ukraine massiv ausweitet und sogar selbst zum Kriegsbeteiligten wird – das sei angesichts der Schwäche der russischen Streitkräfte das letzte, woran Präsident Wladimir Putin ein Interesse haben könne, heißt es im Brüsseler Hauptquartier. Deshalb fällt es der Allianz derzeit nicht schwer, besonnen zu reagieren – auch wenn die russische Regierung trotzdem von einer „weiteren hysterischen, zügellos russophoben Reaktion“ des Westens auf den Zwischenfall spricht.

Die Ukraine hält allerdings auch am Mittwoch zunächst an ihren Schuldzuweisungen gegenüber Russland fest, alles andere sei russische „Verschwörungstheorie“. Selenskyjs Sicherheitschef Oleksiy Danilov fordert weitere Untersuchungen zur „russischen Spur“ und sofortigen Zugang zur Unglücksstelle. Kiew drängt den Westen, sich mit der Ausrufung einer Flugverbotszone und der Lieferung von Kampfjets direkter ins Kriegsgeschehen einzumischen. In der Nato gibt es dafür am Mittwoch keine Unterstützung.

Dieser Artikel erschien zuerst bei morgenpost.de.