Berlin. Angstmacherei oder bittere Realität? Corona-Experte Jeremy Farrar stimmt uns auf neue Pandemien ein. Das Reservoir ist das Tierreich.

Wenn Jeremy Farrar sich unterwegs in der Bahn in England umschaut, ist er einer der wenigen, die noch Maske tragen. Diese Haltung hält er unangemessen leichtsinnig. So könne das Coronavirus Abermilliarden von Kopien in Millionen von Menschen hervorbringen. Und jedes einzelne Virus könnte "gegen unsere Impfstoffe und unsere Immunabwehr seinerseits immun werden", warnt der britische Infektionsspezialist im "Spiegel". Auch interessant: Corona: "Die Leute sind es müde, immer vorsichtig zu sein"

Das Interview ist kein Gespräch für Menschen mit schwachen Nerven. An einer Stelle bekennt Farrar, es sei "extrem schwierig", in der Krisenkommunikation nicht in Angstmacherei zu verfallen "und trotzdem sehr deutlich zu sagen, was man für die bittere Realität hält."

Schreckensszenario: Kreuzung von Influenza und Vogelgrippe

Dazu gehört, dass laut Farrar die Welt "am Beginn einer Ära der Pandemien" steht: Mit angepassten Viren, gefährlichen Mutationen und einem schier unerschöpflichen Seuchenreservoir aus dem Tierreich. "Auf jeden Fall ist davon auszugehen, dass die nächste Pandemie aus dem Tierreich kommt", sagt Farrar voraus, der 2020 einer der Ersten war, die laut auf die Gefahr einer Covid-Pandemie hingewiesen hatten.

  • Um 1999 fing es mit dem Nipah Virus in Malaysia an. Ursprung: Flughunde. Und extrem tödlich. Zwei von drei infizierten Menschen starben.
  • 2002 ging Sars-CoV-1 von China aus. Es war wohl von Fledermäusen zum Menschen übergesprungen.
  • Zwei Jahre später: H5N1, die Vogelgrippe. Ursprung Thailand, vermutlich durch Zugvögel verbreitet.
  • 2012 dann MERS. Ausgangspunkt: Saudi-Arabien. Als Reservoir gelten laut Robert Koch-Institut (RKI) diesmal Dromedare.
  • 2014 bricht Ebola in mehreren westafrikanischen Ländern aus, die wahrscheinlichen Überträger: Bulldoggen-Fledermäuse.
  • Ein Jahr später: Zika-Ausbruch in Brasilien, übertragen durch Mücken, aber erstmals schon 1947 bei Rhesusaffen in Uganda nachgewiesen.
  • 2020 dann Sars-Cov2, "mit allergrößter Wahrscheinlichkeit" aus dem Tierreich gekommen. Außer dem Ort des Ausbruchs, das chinesische Wuhan, spricht für Farrar "eigentlich derzeit nichts mehr" für einen Laborausbruch.

"Es verändert sich etwas an der Schnittstelle zwischen Mensch und Tier", beobachtet Farrar. Immer mehr Menschen, die ihren Lebensraum in die Natur ausdehnen, während Tiere wiederum in Städte wandern. "Und im Moment haben wir keinen systematischen Ansatz, um dieses massive Reservoir an Viren, das in Tieren zirkuliert, zu verstehen und zu kontrollieren."

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Farrars Schreckensszenario: Eine Kreuzung von Influenza – hoch ansteckend – mit H5N1, extrem tödlich. "Wenn sich jetzt ein Schwein oder ein Mensch zufälligerweise gleichzeitig mit dem Vogelgrippevirus und einem normalen Influenzavirus infizieren sollte, dann könnte H5N1 sich rekombinieren." Eigentlich unglaublich, so Farrar, dass dies noch nicht passiert sei. Das könnte Sie auch interessieren: Corona- und Grippe-Impfung gleichzeitig – geht das?

Corona: Der Ausweg wären Impfstoffe, die eine Ansteckung verhindern

Im Tierreich zirkuliere eine breite Palette von Coronaviren, "und wir haben keine Ahnung, wie gut die Kreuzimmunität mit Sars-CoV-2 wirklich ist. Auf jeden Fall sollten diese Viren weiterhin weit oben auf der Liste der möglichen Pandemieerreger stehen", mahnt er.

Corona werde für immer bei uns bleiben. "Man wird noch in hundert Jahren über diese Pandemie sprechen." In einer stabilen Phase seien wir noch nicht angekommen. "Sie sehen ja, was in Deutschland nach dem Oktoberfest passiert ist."

Corona: Eine "Suppe von Varianten"

Den Ausweg sieht er in der Herstellung von Impfstoffen, die Infektionen verhindern. Andernfalls würden die Gesellschaften im Kreislauf von Angst und Streit verharren.

Für den Experten treten wir gerade in eine neue Phase der Pandemie ein. Drei Aspekte drängen sich auf. Erstens, die Viren sind jetzt so leicht übertragbar, dass sie ständig in der Bevölkerung zirkulieren, selbst dort, wo die große Mehrheit der Menschen entweder schon infiziert wurde oder geimpft ist. Oder beides.

Zweitens habe man es in Zeiten von Omikron nicht mehr mit einem dominanten Virustyp zu tun, "sondern mit einer ganzen Suppe von Varianten". Drittens trifft es auf Menschen mit einer jeweils unterschiedlichen Immunantwort; je nachdem, wann sie angesteckt oder geimpft wurden. Eine Vielfalt, an die sich das Virus anpasst. Farrar: "Das Virus sucht sich Nischen, die es ausnutzen kann."

Corona: Deutsche Maskenpflicht im Nahverkehr als Vorbild

Mindestens für die Dauer des Winters auf der Nordhalbkugel, müsse man versuchen, Infektionen möglichst zu vermeiden. Alles, was man tun könne, um Ansteckungen gering zu halten, sei eine gute Sache. So wie in Deutschland die Maskenpflicht im öffentlichen Nahverkehr. Lesen Sie auch: Kampf gegen Corona: Lauterbach drängt auf Maskenpflicht in Innenräumen

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.