Berlin. Der globale #MeToo-Kampf geht weiter: Die Antidiskriminierungsbeauftragte Ataman fordert schärfere Gesetze gegen sexuelle Belästigung.

Es ist ein schlichtes „Me too“, auf Deutsch „Ich auch“, das jedes Mal wieder einen Abgrund beschreibt. Seit am 15. Oktober 2017 die Schauspielerin Alyssa Milano Frauen weltweit im sozialen Netzwerk Twitter aufforderte: „Wenn Sie sexuell belästigt oder angegriffen wurden, schreiben Sie ,Ich auch‘ als Antwort auf diesen Tweet“, reagierten Millionen Frauen darauf. 200.000 am ersten Tag, eine halbe Million bereits am zweiten Tag.

Weltweit lösten die Bekenntnisse Bestürzung aus. Aber sie klagten auch diejenigen an, die ihre Macht missbraucht hatten, um sich Frauen – und seltener auch Männern – ohne deren Einverständnis sexuell zu nähern. Um sie zu beleidigen, zu bedrängen. Jene, die Frauen diskriminierten und kleinhalten wollten: Männer mit Macht.

#MeToo: Zehn Tage nach den Artikeln der erste Post

Die Phrase aus Milanos Tweet geht ursprünglich auf die US-amerikanische Aktivistin Tarana Burke zurück. Und auch den Sexismus in Hollywood hatte schon vor dem Tweet der Schauspielerin jemand aufgerollt: Zehn Tage vor Milanos #MeToo-Post erschien am 5. Oktober 2017 ein Artikel in der „New York Times“, der den sexuellen Missbrauch in der Glamourzentrale der USA offenlegte. Vor allem ein Mann stand im Zentrum zahlreicher Vorwürfe: der Hollywoodproduzent Harvey Weinstein.

Die weltweite Bewegung erreichte 2017 auch Deutschland. Was ist seitdem passiert? Und vor allem: Ist genug getan worden, um Frauen zu helfen, die von ihrem Chef oder Kollegen sexuell bedrängt oder belästigt werden?

Die Schauspielerin Alyssa Milano veröffentlichte am 15. Oktober 2017 einen Tweet , der viral ging. Millionen Frauen teilten den Tweet.
Die Schauspielerin Alyssa Milano veröffentlichte am 15. Oktober 2017 einen Tweet , der viral ging. Millionen Frauen teilten den Tweet. © Twitter/@Alyssa_Milano | Twitter/@Alyssa_Milano

#MeToo: Bis heute entlarven Fälle große Unternehmen

Es ist erst ein paar Tage her, da hat die frühere FDP-Politikerin Silvana Koch-Mehrin in einem Buch öffentlich gemacht, wie sie es jahrelang stillschweigend ertrug, angemacht, begrapscht und diskriminiert zu werden. Ähnlich soll es jahrelang einigen Mitarbeiterinnen bei der „Bild“-Zeitung ergangen sein.

Eine Untersuchung durch die Anwaltskanzlei Freshfields im Auftrag des Axel-Springer-Verlags ergab im März 2021, dass der damalige „Bild“-Chefredakteur Julian Reichelt seine Macht missbraucht hatte, indem er junge Frauen, mit denen er eine sexuelle Beziehung hatte, beförderte oder degradierte.

Dem Compliance-Verfahren folgte erst eine zeitweise Freistellung Julian Reichelts. Als der beteuerte, Fehler gemacht zu haben, durfte er zurückkehren, doch weitere Enthüllungen katapultierten ihn letztlich im Herbst hinaus. Jetzt hat eine ehemalige Angestellte der „Bild“ an einem Gericht in Los Angeles eine Zivilklage gegen das Medium sowie gegen eine Tochterfirma des Axel-Springer-Verlags eingereicht. Unter anderem geht es um den Vorwurf der sexuellen Belästigung.

Fünf Jahre #MeToo: Es gelten neue gesellschaftliche Normen

Seit 2017, seit Beginn der #MeToo-Bewegung, werden Verhältnisse zwischen Angestellter und Vorgesetztem zumindest gesellschaftlich neu bewertet. Wie freiwillig ist ein Verhältnis mit einer Praktikantin – auch wenn sie volljährig ist? Wann gewinnt die Macht überhand, sollten Beziehungen in einem Hierarchiegefälle überhaupt toleriert werden? Was ist Liebe, Erotik und was Macht?

Und was viele vor #MeToo noch hingenommen haben – den Klaps oder den Kniff in den Po, das Bedrängtwerden durch den Chef, die anzüglichen sexuellen Bemerkungen, die im Arbeitsumfeld nichts zu suchen haben –, wird heute nicht mehr toleriert.

Doch was ist eigentlich die Absicht hinter der sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz? Die Autorin Barbara Sichtermann stellte kürzlich klar: „Weder ist der Meister, der den weiblichen Lehrling ‚meine Süße‘ nennt, noch der Abteilungsleiter, der die Praktikantin begrapscht, immer auf ein Rendezvous aus. Doch was ist dann der Sinn dieser Anmache? Ganz einfach: Es ist ein Machtspiel. Ein Mann gibt einer Frau zu verstehen, wo sie seiner Meinung nach hingehört: in die private Sphäre.“

Seit Inkrafttreten des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) im Jahr 2006 sind in Deutschland das Verbot von und der Schutz vor sexueller Belästigung am Arbeitsplatz über das AGG geregelt. Daraus ergeben sich konkrete Rechte und Handlungsmöglichkeiten für die Betroffenen, aber auch Schutz- und Interventionspflichten für Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen.

Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz: Jeder Zweite hat es schon erlebt

Doch wie groß ist das Problem? In einer Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes aus dem Jahr 2015 zur sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz gab die Hälfte der befragten Männer und Frauen an, schon einmal bei der Arbeit sexuell belästigt worden zu sein. 2019 ermittelte eine ähnliche Studie, wie betroffen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen allein in den vergangenen drei Jahren waren. Das erschütternde Ergebnis: 13 Prozent der Frauen in Deutschland sind von 2016 bis 2019 am Arbeitsplatz sexuell belästigt worden, fünf Prozent der Männer.

Das heißt: Sexuelle Belästigung gehört immer noch zum Alltag in Deutschland. Dazu gehören Aufforderungen wie „Setz dich auf meinen Schoß“ genauso wie tatsächliche körperliche Übergriffe, scheinbar zufällige Berührungen, anzügliche Bemerkungen sexuellen Inhalts, das Anbringen aufreizender oder pornografischer Bilder sowie unerwünschtes Anstarren.

Die Unabhängige Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung, Ferda Ataman, fordert schärfere Gesetze gegen sexuelle Belästigung.
Die Unabhängige Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung, Ferda Ataman, fordert schärfere Gesetze gegen sexuelle Belästigung. © epd | Christian Ditsch

Antidiskriminierungsbeauftragte fordert schärfere Gesetze

Die Antidiskriminierungsbeauftragte der Bundesregierung sieht auch fünf Jahre nach Beginn der #MeToo-Bewegung Handlungsbedarf in Deutschland. Denn nach #MeToo seien die Anfragen zu sexueller Belästigung bei der Antidiskriminierungsstelle deutlich gestiegen.

„Frauen haben sich ermutigt gefühlt, über ihre Erfahrungen zu berichten. #MeToo war 2017 ein Befreiungsschlag für Frauen, die bis dahin verstummt waren", sagt Ferda Ataman unserer Redaktion. "Dabei ist sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz real – unabhängig davon, ob es sich um einen Großkonzern oder um eine kleine Firma handelt."

Es sei daher sehr wichtig, dass Arbeitnehmer- und Arbeitnehmerinnen nicht mehr schwiegen und das Tabu, das auf dem Thema teilweise liege, durchbrechen würden, erklärt Ataman.

Ataman: „Brauchen eine Reform des Antidiskriminierungsgesetzes“

Doch das allein reicht Ataman zufolge nicht: „Wir brauchen eine Reform des Antidiskriminierungsgesetzes", fordert sie. Der Gesetzgeber sehe vor, dass Personen, die von sexueller Belästigung betroffen sind, acht Wochen Zeit haben, um Ansprüche geltend machen zu können.

„#MeToo hat aber gezeigt, dass viele Frauen erst Jahre später darüber sprechen können oder sich nicht trauen, gegen ihren Arbeitgeber vorzugehen. Deshalb muss die Frist auf zwölf Monate verlängert werden“, erklärt Ataman. Auch sollten Betroffene künftig gemeinsam klagen können, bisher können sie das nur allein.

Verbände oder Antidiskriminierungsstellen haben kein unterstützendes Klagerecht. Das sei ein weiteres „erschwerendes Hemmnis“, auch in diesem Punkt brauche Deutschland eine Änderung des Gesetzes. Und drittens benötige man flächendeckend mehr Anlaufstellen, die Opfer beraten, helfen und über die Rechtslage aufklären, wenn es zu einem Übergriff gekommen ist.

In Deutschland, so stellte die Antidiskriminierungsbeauftragte fest, werde dem Thema traditionell weniger Beachtung geschenkt als in anderen Ländern wie den USA. Von daher war die #MeToo-Bewegung für Deutschland „extrem wichtig“, weil sie Frauen Mut gemacht habe, sich zu wehren, aber auch Arbeitgeber sensibilisiert habe. Mittlerweile gebe es gute Beispiele in den Unternehmen, etwa Betriebsvereinbarungen zu sexueller Belästigung, regelmäßige Betriebsversammlungen und sichtbare Beratungsangebote.

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.