Berlin. Harvey Weinstein sitzt im Gefängnis, doch die Bewegung #MeToo lebt. Wie nötig das ist, zeigen neue Skandale – und der Alltagssexismus.

Zwölf Maßkrüge vor dem wogenden Busen. Auf dem Oktoberfest 2022 ist dies eine ebenso alltägliche wie extreme Leistung. Das Bild von der Wiesn-Kellnerin schlägt im privaten Whatsapp-Chat auf – garniert von der Zeile: „Kann eine Frau gleichzeitig zwölf Männer befriedigen? Ja, sie kann.“

Der Urheber garniert seinen Post mit Emojis, denen vor Lachen die Tränen runterrollen. Ein Gruppenmitglied kann gar nicht lachen. Sie empört sich: Derartiger Sexismus gehört nicht in den Chat. Eine heftige Debatte über sexuelle Belästigung bricht aus; am Ende löst sich die Gruppe auf.

Fünf Jahre #MeToo: Billige Witze prägen immer noch den Alltag

Was das Beispiel zeigt: Da mag ein Filmmogul namens Harvey Weinstein wegen unzähliger Vergewaltigungen und schweren Belästigungen im Gefängnis sitzen. Da mag der Ring minderjähriger Mädchen, den der Investmentbanker Jeffrey Epstein zur sexuellen Ausbeutung geschaffen hatte, Prinz Andrew zur Persona non grata gemacht haben. Da mögen die sexuellen Machenschaften des Rektors der Münchner Musikhochschule ein Skandal gewesen sein. Da mag auch der deutsche Regisseur Dieter Wedel #MeToo nach Deutschland geholt haben. Billige Witze, die Frauen zu reinen Sexobjekten degradieren – was die Wegbereitung für schweren Missbrauch ist -- gehören immer noch zum Alltag.

Aber Frauen sind immer weniger gewillt, dies zu ertragen. Und genau deshalb reißen die Skandale nicht ab, wie etwa der Fall des ehemaligen Bild-Chefs Julian Reichelt zeigt, der erst vor einem Jahr seinen Job nach einem Compliance-Verfahren verlor, bei dem ihm Machtmissbrauch und Ausnutzung von Abhängigkeitsverhältnissen im Umgang mit jungen Mitarbeiterinnen vorgeworfen wurde.

Harvey Weinstein: Die Vorwürfe gegen ihn reißen nicht ab

Klar ist: Seit #MeToo ist es gefährlicher geworden, hinter den Kulissen seine Position auszunutzen. Der Fall Weinstein zeigt, dass eine unklare Beweislage (wie kann auch die Beweislage klar sein, wenn es um Machtmissbrauch, sexuelle Nötigung oder gar Vergewaltigung geht) nicht vor Verurteilung schützt – und erst recht nicht, wie der Fall Reichelt zeigt, vor dem Verlust der beruflichen und privaten Reputation.

Harvey Weinstein, verurteilt zu 23 Jahren Haft, steht übrigens gerade zum zweiten Mal vor Gericht. Angeklagt ist er in elf Punkten, fünf Frauen werfen ihm Vergewaltigung vor.

Frauen sagen, was ihnen passiert. Was sie stört. Dass sie nicht einfach im Büro eine Nackenmassage wollen. Dass sie auch nicht einfach angefasst werden möchten. Dass sie es hassen, wenn sie beim Verlassen des Chefbüros den Blick an ihrem Hintern spüren.

Wie sich Silvana Koch-Mehrin gegen den Alltagssexismus wehrt

Zurück zu den Witzen und Anzüglichkeiten: Natürlich werden sie gern im Beisein von Frauen erzählt, allein um die Wirkung zu testen. Erzeugen sie Verunsicherung? Oder gar Scham? Werden sie rot? Trauen sie, sich zu wehren, und wenn nicht: Kann man(n) weitergehen?

Silvana Koch-Mehrin (FDP) legt den Alltagssexismus in ihrer Partei offen.
Silvana Koch-Mehrin (FDP) legt den Alltagssexismus in ihrer Partei offen. © picture alliance / dpa | örg Carstensen

Sich gegen sie zu wehren, ist daher nicht prüde, sondern Vorbeugung. Gut also, dass die FDP-Politikerin Silvana Koch-Mehrin den Finger mit ihrem Buch, in dem sie vom Alltagssexismus berichtet, den Finger in die Wunde der Partei legt, die so große Schwierigkeiten hat, für Frauen attraktiv zu sein.

Apropos Prüderie. Auch das wird Frauen vorgeworfen, die sagen: Wehret den Anfängen. Doch sich gegen Sexismus im Alltag zu wehren, hat damit gar nichts zu tun. Beim Flirt, beim Anbahnen von Beziehungen, haben Abhängigkeit und Machtmissbrauch nichts verloren. Wer es zulässt, zum reinen Sexobjekt zu werden, verliert schnell die Augenhöhe – und wird zum Opfer.

Was trotz all der Aufklärung immer noch hinter den Kulissen passiert, wie sich Regisseure, Firmenbosse, Trainer, Pfarrer, Professoren nach wie vor ihre Macht zunutze machen und in der Vergangenheit gemacht haben – wir wissen es nicht. Sicher ist inzwischen nur, dass sie sich nicht sicher sein können, dass alles rauskommt. Wenn das nicht ein wunderbarer Erfolg ist.

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.