Brandenburg. Familie Jeschkowski gehört zum Mittelstand. Doch die Inflation von 10 Prozent – der neue Höchststand seit 1951 – setzt ihnen extrem zu.

Bereits vor der Tür des weißen Einfamilienhauses sind Kinderstimmen zu hören. Claudia Jeschkowski öffnet und bittet herein. Die 45-Jährige eilt zurück ins Wohnzimmer, wo Radlader und Bulldozer arbeiten. Der fünfjährige Jean-Claude sitzt auf dem Fußboden zwischen seinen Spielzeugen und gibt laute Motorengeräusche von sich. Aus einem Laufgitter schaut der zehn Monate alte Luca mit großen blauen Augen zu. Er versucht laut auf sich aufmerksam zu machen.

Claudia wohnt mit ihrem Mann Henrik und den beiden Kinder in einer Kleinstadt in Brandenburg. Sie gehören zur klassischen Mittelschicht – eine Gruppe, die in Deutschland seit Jahren schrumpft. Die hohe Inflation ist dafür ein Brandbeschleuniger. Für diesen September meldete das Statistische Bundesamt eine Inflationsrate von zehn Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Das ist der höchste Stand, der seit 1951 in Deutschland erreicht wurde.

Deutschland: Die Mittelschicht schwindet

Eine Familie mit zwei Kindern gehört in Deutschland zur Mittelschicht, wenn sie zwischen 3000 und 8000 Euro netto im Monat zur Verfügung hat. Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung hat diese Spanne im vergangenen Jahr berechnet. Sie stützt sich auf die Definition der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Demnach bedeutet Mittelschicht in einem Land: Ein Haushalt kann 75 bis 200 Prozent des mittleren Einkommens ausgeben.

Diese Gruppe ist laut Studie heute kleiner als noch Mitte der 90er-Jahre. Es ist schwerer geworden, zu ihr aufzusteigen und leichter, in die untere Einkommensschicht zu rutschen. Als die Studie verfasst wurde, war die zweistellige Inflationsrate noch weit entfernt. Die Mitte, sie bröckelt.

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© FUNKE Foto Services | Sergej Glanze

Inflation: Noch hat die Familie keine Angst vor dem Abstieg

Familie Jeschkowski kann im Monat 3600 Euro ausgeben. Sie hat keine Angst vor dem Abstieg. Die steigenden Preise lassen sie trotzdem nicht kalt. „Wenn wir früher überschlagen haben, dann hat uns ein Wocheneinkauf ungefähr hundert Euro gekostet. Jetzt sind wir bei etwa 160 Euro angekommen“, rechnet Claudia am Wohnzimmertisch vor. Während sie erzählt, füttert sie ihr Pflegekind Luca. Die Jeschkowskis haben den Säugling in Dauerpflege. Claudia ist deshalb in Elternteilzeit und arbeitet nur zehn Stunden in der Woche.

Sie ist bei einem Personaldienstleister im nahen Berlin angestellt. Dort organisiert sie Weiterbildungen – derzeit aus dem Homeoffice. 864 Euro verdient sie. Dazu kommen Kinder- und Pflegekindergeld. Ihr Mann Henrik bringt den Großteil des Einkommens nach Hause. Er arbeitet im selben Bereich wie seine Frau. Als Freiberufler reist er von Montag bis Donnerstag zu Firmen in ganz Deutschland. Der Familienvater berät Unternehmen und bildet die Angestellten weiter.

Lebensmittelpreise: Deutsche kaufen weniger Fisch und Fleisch

Die Inflation spürt die Familie vor allem an den Kleinigkeiten im Alltag. In ihrem Einkaufswagen liegt nicht mehr viel Fleisch. Die Brötchen kaufen sie im Supermarkt anstatt vom Bäcker. Laut Umfragen versuchen fast alle Deutschen derzeit vor allem bei Lebensmitteln zu sparen. Das Umfrageinstitut Kantar hat für Ende August ermittelt, dass 42 Prozent der Befragten besonders Fisch und Fleisch in den Kühlregalen des Supermarkts liegen lassen. Die Teilnehmer gaben auch häufiger an, dass sie auf Brötchen beim Bäcker verzichten oder weniger Bio-Produkte kaufen.

„Auch bei Aktivitäten in der Freizeit haben wir eingespart“, sagt Claudia. „Wir überlegen uns genau, was wir machen wollen. Der Berliner Tierpark ist zu viert zum Beispiel nicht besonders preisgünstig. Wir gehen jetzt lieber öfter raus in die Natur.“ Weniger auswärts essen, seltener Kino, auf die Kugel Eis verzichten: Die kleinen Freuden im Alltag würden nun häufiger ausfallen, sagt die Personalentwicklerin. Auf den Urlaub wollen sie allerdings nicht verzichten. Die Familie fährt dieses Jahr zu einem Kinderbauernhof auf Rügen. „Da kann man Schweine füttern“, ruft Jean-Claude, der aufgeregt von seinen Spielsachen aufspringt. „Und es gibt meine Lieblingstiere: Ziegen.“

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Familie Jeschkowski gehört zum Mittelstand. Vor dem finanziellen Abstieg haben sie keine Angst, die Inflation lässt sie trotzdem nicht kalt.
Familie Jeschkowski gehört zum Mittelstand. Vor dem finanziellen Abstieg haben sie keine Angst, die Inflation lässt sie trotzdem nicht kalt. © FUNKE Foto Services | Sergej Glanze

Energiepreise: Kosten für Fernwärme steigen

Die Jeschkowskis wissen, dass es gerade vielen Familien schlechter geht als ihnen. Ihr Haus in der Neubausiedlung haben sie 2014 „nicht gesucht, aber gefunden“, erzählt Henrik, der dazugekommen ist. Das Haus bezahlen sie noch ab. Demnächst aber wird ein Bausparvertrag aus den 90er-Jahren fällig, den er für Instandhaltungen eingeplant hat.

Zudem hat das Paar in eine Solaranlage investiert, die monatlich abbezahlt wird. Im Freundeskreis spreche man häufiger mit Sorge über das Thema Energieversorgung. Mit der Anlage wollen sie unabhängiger sein. Die Jeschkowskis heizen mit Fernwärme. Dafür benötigen sie aktuell 194 Euro im Monat. Der Betrag soll demnächst erhöht werden. Schon in den ersten beiden Pandemie-Jahren haben sie durch das Homeoffice mehr Energie verbraucht. Wechseln können sie nicht, zehn Jahre sind sie an ihren Anbieter gebunden. „Eine Alternative steht aber hier“, sagt Henrik und blickt lächelnd auf den Kamin im Wohnzimmer. Im vergangenen Winter haben sie den Ofen schon angemacht.

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Preisbremse: Entlastungsmaßnahme greift erst im März

Henrik wünscht sich von der Regierung ein schnelleres Handeln und kreative Lösungen. Wer weniger Energie verbraucht, sollte auch dafür belohnt werden, findet er. Aktuell diskutiert die Bundesregierung über ein Konzept, das das teilweise vorsieht. Neben einer einmaligen Zahlung haben die Sachverständigen auch eine sogenannte Wärmepreisbremse vorgeschlagen.

Fernwärmekunden könnten dann ein Grundkontingent günstiger verheizen. Die Preisbremse soll aber erst ab März greifen. Um sich ein Polster zu schaffen, hat Henrik dieses Jahr mehr gearbeitet. Damit wollte er auch die verpassten Aufträge durch die Pandemie in den Jahren zuvor aufholen. Wegen der Unsicherheit haben beide gerade aufgehört, in ihre Altersvorsorge zu investieren. „Die haben wir kurzfristig ausgesetzt“, sagt Claudia.

Entlastungen: Das Nachfolgemodell vom 9-Euro-Ticket hilft der Familie wenig

Eine hilfreiche Entlastung, das sagen beide, war das 9-Euro-Ticket. „Für mich war das sehr praktisch, da ich den Großteil der Woche sowieso mit dem Zug unterwegs bin“, sagt Henrik. Seine Frau nickt, mit der S-Bahn ist sie in einer Stunde im Berliner Büro. Dass Berlin ein Nachfolgeticket für 29 Euro eingeführt hat, hilft ihr wenig: An den Grenzen der Stadt gilt es nicht mehr. Für Familien wäre es außerdem toll, wenn Kinder nicht ab sechs Jahren schon einen höheren Eintritt in vielen Bereichen zahlen müssten, sagt Claudia noch.

Die Inflation ist für Menschen mit Rücklagen häufig noch zu schultern. Dass die Kosten über den Winter steigen, bezweifelt kaum jemand. Die Regierung rechnet für das nächste Jahr mit einer durchschnittlichen Inflation von sieben Prozent und einer schrumpfenden Wirtschaft. Die Angst der Mittelschicht vor dem Abstieg – sie bleibt.

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.