Moskau. Putins Teilmobilmachung trifft 300.000 Reservisten. Viele versuchen, sich zu drücken – sie tricksen und machen daraus kein Geheimnis.

„Sie können weiter ruhig auf Dienstreise nach Krasnodar oder Omsk fahren, aber ich würde Ihnen nicht raten, in türkische Kurorte zu fahren – erholen Sie sich lieber in den Badeorten der Krim und des Gebiets Krasnodar“, sagte Andrej Kartapolow, der Leiter des Verteidigungsausschusses im russischen Parlament am Mittwoch, kurz nach der Rede von Wladimir Putin. Da waren viele Flüge in Länder, in die Russen visafrei reisen können, bereits ausgebucht.

Kolja aus Moskau, 41 Jahre alt, ist Offizier der Reserve. Ihn könnte die Teilmobilmachung treffen. Ausreise wäre für ihn eine Option. „Panik, Verzweiflung, Angst vor einem Dritten Weltkrieg, vor dem Einsatz von Atomwaffen“, das habe er direkt nach der Bekanntgabe von Putins Entscheidung gefühlt. „Ich habe weder Kampferfahrung noch eine passende militärische Ausbildung – und schon gar kein Verlangen, in Putins Krieg zu kämpfen. Selbst die, die immer große Töne gespuckt haben, werden jetzt zittern“, versichert er unserer Redaktion.

Russland: Die Menschen trauen sich nicht auf der Straße zu sprechen, aber im Netz

So wie Kolja empfinden viele der 25 Millionen Reservisten in Russland. Der russische Präsident Wladimir Putin hat die Teilmobilmachung wegen des Ukraine-Kriegs angeordnet. 300.000 Reservisten sollen jetzt eingezogen werden. Wen es trifft? Niemand weiß es. Auf den Straßen von Moskau gibt es viel Zurückhaltung, nur wenige Passanten wollen Putins Entscheidung kommentieren. Doch im Netz äußern sich viele, die von der Einberufung betroffen sein könnten. Das Online-Medium Meduza hat die Stimmen gesammelt.

Der 28-jährige Leonid aus Moskau etwa schreibt: „Putins Entscheidung hat meine Zukunft in Russland zerstört. Ich mache Urlaub in der Türkei. Ab morgen entscheide ich, wo und wie ich mich bewegen kann, um ein neues Leben zu beginnen. Wie man ein Auto verkauft. Wie man eine Katze außer Landes bringt. Wie man einem Bruder hilft, der jetzt in Moskau ist.“

Protest auch in Belgrad in Serbien gegen die Teilmobilisierung: Ein Junge hält ein Plakat mit der Aufschrift „Stop war“ während einer Demonstration.
Protest auch in Belgrad in Serbien gegen die Teilmobilisierung: Ein Junge hält ein Plakat mit der Aufschrift „Stop war“ während einer Demonstration. © dpa | Darko Vojinovic

Michail (36) stammt aus Nowosibirsk. „Ich habe Russland im Frühjahr verlassen. Ich weiß nicht genau, wie die Mobilisierung in meiner Heimatstadt verläuft, aber ich werde definitiv nicht nach Russland zurückkehren.“

Die Flucht-Strategien der russischen Reservisten

Viele Reservisten überlegen, wie sie der Einberufung entgehen können. Der Moskauer Ilja, 35 Jahre alt, schreibt: „Ich habe mit meinen Eltern vereinbart, dass ich, wenn ich eine Vorladung bekomme, für mindestens sechs Monate in ein abgelegenes Haus auf dem Land ziehe und sie Essen liefern.“

Roman ergänzt: „Ich habe mich bereits bei allen möglichen Ärzten in der Klinik angemeldet, um alle meine chronischen Krankheiten offiziell registrieren zu lassen. Ich hoffe, in diesem Fall die Kategorie „D“ zu bekommen.“ Sprich: Doch nicht eingezogen zu werden. Die meisten Reservisten, deren Aussagen Meduza dokumentiert hat, denken wie der 31-jährige Iwan aus der Region Primorsky: „Ich habe die Hoffnung, dass sie mich nicht erreichen werden.“ Und wollen nichts dringender, als Russland zu verlassen.

Auch der Sohn des Kremlsprechers Dmitrij Peskow soll kein gesteigertes Interesse daran haben, für Putin in den Ukraine-Krieg zu ziehen. Offenbart hat er seine Unlust, während eines Telefonstreichs, als sich der Anrufer als jemand von der Einberufungsbehörde ausgab, antwortete Nikolai Peskow: „Dass Sie mich morgen einziehen – glauben Sie mir, das brauchen weder Sie noch ich“. Angesprochen auf eine mögliche Einberufung und man ihn jetzt auf die Liste nehmen solle, reagierte Nikolai Peskow abweisend und sagte: „Definitiv nicht!“

Im Netz gehen viele Gerüchte zur Mobilisierung um

Im Netz kursieren Spekulationen darüber wie die Mobilisierung praktisch durchgeführt werden wird. Tatsache ist, dass die Einberufung derzeit wohl nur gültig ist, wenn der entsprechende Bescheid dem Reservisten persönlich übergeben wird. Laut Meduza gilt „die Vorladung erst dann als zugestellt, wenn Sie dem Mitarbeiter des Militärmelde- und Einberufungsamtes die Tür geöffnet und das Dokument unterschrieben haben. Die weit verbreitete Praxis, Vorladungen in Briefkästen zu werfen, verpflichtet Sie nicht – solche Dokumente können ignoriert werden.“

Doch warum nun dieser Schritt? Warum die Teilmobilmachung der Reservisten? Ein Grund ist wohl der Personalmangel in den russischen Einheiten, die in der Ukraine kämpfen. Bislang werden nur Vertragssoldaten eingesetzt, Freiwillige, zumeist aus den ärmeren Regionen Russlands, die gegen Bezahlung zum Militär gehen. Doch Freiwillige gibt es immer weniger – trotz Plakat-Kampagnen in vielen russischen Städten. Von einer, wohl nicht sehr erfolgreichen „verdeckten Mobilisierung“ spricht die Online-Zeitung „Nowaja Gaseta“. Selbst in Gefängnissen würde rekrutiert, Militärdienst gegen Straferlass. Nun also die reguläre Mobilmachung von Reservisten, die ihren Wehrdienst abgeleistet haben.

Referenden in Cherson und Saporischschja

In seiner Rede vom Mittwoch betonte Russlands Präsident Putin: „Die Parlamente der Volksrepubliken des Donbass und die zivil-militärischen Verwaltungen der Regionen Cherson und Saporischschja haben beschlossen, Referenden über die Zukunft dieser Gebiete abzuhalten. Und sie haben sich an uns, an Russland, gewendet mit der Bitte, einen solchen Schritt zu unterstützen.“ Wären die vom Westen als „Scheinreferenden“ bezeichneten Abstimmungen erfolgreich, und davon ist auszugehen, so könnten in der Ukraine Reservisten eingesetzt werden, quasi zur „Landesverteidigung“.

Nach den jüngsten militärischen Misserfolgen, und aller Kritik daran, hat sich Russlands Präsident Putin mit der Einberufung von Reservisten vorerst also wieder Luft verschafft und sich die Unterstützung der Nationalisten im Land gesichert. Die Entscheidungen seien „fast alle so, wie ich es mir gewünscht habe“, lobt der im Donbass agierende Feldkommandeur Alexander Chodakowski.

Proteste und Demonstrationen: Selbst Rentner werden eingezogen

In Russland hingegen sind bereits in 38 Städten viele Menschen gegen die Mobilisierung auf die Straße gegangen. Über 1.300 Demonstranten wurden verhaftet, berichtet die Bürgerrechtsorganisation OVD-Info. Davon mehr als 500 in Moskau und gleich viele in Sankt Petersburg. Bis zu 15 Jahre Haft droht den Demonstranten.

Die nun erfolgte Mobilisierung schürt Ängste, Putin könne auch noch das Kriegsrecht verhängen – erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg. Davon ist Russland noch weit entfernt. Aber in Erinnerung vieler ist der Satz Putins vom Juli zur „Spezialoperation“ in der Ukraine: „Wir haben noch nicht ernsthaft begonnen.“ Putin wies am Dienstag auch die Rüstungsindustrie an, die Waffenproduktion hochzufahren. Selbst Rentner werden mobilisiert für den Mehrschichtbetrieb. Aber viele Menschen in Russland glauben nicht mehr an den großen Sieg. Und der russische Politologe Abbas Galljamow meint sogar, dass Putin nicht einmal versuche, auf dem Schlachtfeld Erfolge zu erringen – und selbst nicht an einen Sieg glaube. „Er braucht die Mobilisierung, um die Ukraine an den Verhandlungstisch zu zwingen“, sagt Galljamow. Dafür zeige Putin die Bereitschaft zur Eskalation bis hin zum Einsatz von Atomwaffen.

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Kolja aus Moskau jedenfalls sagt, er hoffe, durchs Raster zu fallen. „Ich bin 1000 Kilometer von Moskau entfernt gemeldet, ein Einberufungsbescheid muss persönlich gegen Unterschrift übergeben werden. Per Post geht es nicht. Zumindest laut Gesetz. Aber was gilt das schon bei uns.“ Verstecken wäre auch für ihn eine Option oder die Flucht ins Ausland. „Aber ich kann nicht sicher sein, dass sie mich ausreisen lassen.“ Er hat auf jeden Fall seiner Familie gesagt, niemanden zu erzählen, wo er wirklich lebt. „Das Risiko ist jetzt groß. Am schlimmsten ist die Unsicherheit, zu warten, ob man einberufen wird.“

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.