Berlin. Wirtschaftsexperten befürchten eine Pleitewelle für Firmen und Verbraucher. Aktuelle Daten sprechen allerdings eine andere Sprache.

Auf Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck prasselte zuletzt Hohn, Spott und Wut von Unternehmern ein. Umständlich wollte der Grünen-Politiker in der ARD-Sendung „Maischberger“ auf den Unterschied zwischen einer Insolvenz und einer Betriebsschließung hinweisen. Eine Insolvenzwelle erwarte er aber nicht. Viele Wirtschaftsverbände widersprachen. Eine Pleitewelle sei längst im Gange, sagte etwa der Präsident der Familienunternehmer, Renhold von Eben-Worlée.

Noch sprechen die Zahlen aber eine andere Sprache, bisher rollt noch keine Pleitewelle wegen der Energie-Inflation. Zwar sei die Zahl „der beantragten Regelinsolvenzen im August 2022 um 6,6 Prozent gegenüber Juli gestiegen“, erklärte das Statistische Bundesamt am Montag. Allerdings liegt dieser Indikator, der mehrheitlich Firmen erfasst, seit 2020 auf außergewöhnlich niedrigem Niveau. Und die Zahl der Privathaushalte, die Insolvenz anmeldeten, sank im ersten Halbjahr 2022 gegenüber dem Vorjahreszeitraum um ein Fünftel, meldeten die Wiesbadener Statistiker.

Insolvenzen: Leichte Zunahme – aber auf „historisch niedrigem Niveau“

Momentan widersprechen diese Befunde damit den lauter werdenden Warnungen. Organisationen wie der Industrieverband BDI sehen eine Lawine von Konkursen kommen. „Immer mehr Unternehmen sagen uns, dass sie möglicherweise bald ihre Produktion oder ihr Geschäft einschränken oder gar einstellen müssen“, sagte auch Sebastian Bolay, Abteilungsleiter bei der Bundesorganisation der Industrie- und Handelskammern (DIHK). „Das betrifft Bäcker, die zunehmend teures Gas brauchen, ebenso wie IT-Firmen, deren Stromrechnung massiv steigt.“ Die Wirtschaft sei „in ihrer gesamten Breite betroffen“.

In den Insolvenzstatistiken ist das bisher aber – noch – nicht zu sehen. „Im ersten Halbjahr 2022 haben die deutschen Amtsgerichte 7.113 beantragte Unternehmensinsolvenzen gemeldet – 4,0 Prozent weniger als im ersten Halbjahr 2021“, heißt es in der Erklärung des Statistischen Bundesamtes. Ähnliches erklärte die Wirtschaftsauskunftei Schufa: Die „Negativquote bei Unternehmen lag im Juli bei 9,1 Prozent“, deutlich niedriger als in den Vormonaten. Damit sind Firmen gemeint, bei denen es Hinweise auf Zahlungsschwierigkeiten gibt.

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Auch die Auskunftei Creditreform analysierte: „Trotz einer leichten Zunahme der Pleitefälle bei Unternehmen befinden wir uns in Deutschland noch auf einem historisch niedrigen Niveau.“ Ebenso stagnierten „momentan die Verbraucherinsolvenzen und auch die Überschuldung der Verbraucher“. Lesen Sie auch:Warum die Zahl der Unternehmenspleiten trügerisch ist

Inflation: Unternehmen können gestiegene Preise nicht komplett an Verbraucher weitergeben

Die Frage ist nun, wie es weitergeht. Die entspannte Lage „wird sich in den kommenden Wochen und Monaten ändern“, prognostizierte Patrik-Ludwig Hantzsch, Sprecher von Creditreform. Zwei Entwicklungen kommen seiner Ansicht danach zusammen. Die umfangreichen Unterstützungsprogramme der Regierungen während der Corona-Pandemie haben viele Konkurse von Unternehmen verhindert. Diese oft angeschlagenen Firmen trifft nun die Energie-Inflation, deren Kosten sie nicht in vollem Umfang an die Kunden weitergeben können. „Daher wird es demnächst vermehrt zu Marktaustritten kommen“, schätzte Hantzsch. Frühindikatoren sind laut Creditreform bereits zu sehen: „Derzeit sinkt die Zahlungsmoral branchenübergreifend – die Unternehmen brauchen deutlich länger, um ihre Rechnungen zu begleichen.“

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Dieselbe Überlappung der Corona-Folgen und aktuellen Preissteigerungen spielt für Privathaushalte eine Rolle. Nina Neumann, Schuldnerberaterin beim Sozialdienst katholischer Frauen und Männer in Düsseldorf, hat diese Erfahrung gemacht: „Die Privatinsolvenzen haben wegen Corona schon zugenommen.“ Wesentliche Ursache seien der Verlust des Arbeitsplatzes und Niedrigeinkommen durch Kurzarbeit. Nun kämen die steigenden Gas- und Strompreise dazu. „Noch versuchen die Leute, die Löcher im Budget irgendwie zu stopfen“, sagte Neumann, „wir rechnen aber damit, dass uns in vier bis sechs Wochen viel mehr Hilferufe erreichen“. Auch interessant:Görtz meldet Insolvenz an: Droht dem Schuhhändler das Aus?

Drohende Insolvenzen: Schon während Corona wurde ein Wirtschaftscrash befürchtet

Sladana Wehrle-Paradzik von der Schuldnerberatung der katholischen Caritas in Freiburg berichtete: „Seit Mitte Juni nehmen die Anfragen“ von Privatleuten „massiv zu – dabei überlagern sich die Finanzprobleme wegen Corona mit der aktuellen Inflation“. Manche Privathaushalte müssten jetzt schon deutlich mehr Geld für Gas und Strom ausgeben. „Dann haben sie am Monatsende kein Geld mehr, um Lebensmittel zu kaufen“, sagte Wehrle-Paradzik.

Kommt es also ganz dicke – für Firmen und Haushalte? Nicht unbedingt. Die Befürchtungen werden derzeit breit diskutiert – inklusive daraus abgeleiteter Forderungen an die Politik. Sebastian Bolay vom DIHK sagte beispielsweise: „Die Regierung sollte schnell entscheiden, auch den betroffenen Unternehmen aus dem Mittelstand einen Teil der Energiekosten zu ersetzen.“ Dass es in diese Richtung gehen könnte, ließ Wirtschaftsminister Robert Habeck vergangene Woche im Bundestag bereits durchblicken. Die Verkündigung des dritten Entlastungspakets liegt erst eine Woche zurück, schon wird das vierte debattiert. Befürchtungen haben einen Sinn, weil sie ihr eigenes Nicht-Eintreffen erreichen wollen. Der große Wirtschaftscrash wurde auch bei Corona vorhergesagt – und blieb aus.

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.