Berlin . In Kiew herrscht Freude über den Rückzug der russischen Truppen in der Ostukraine. Ist der Rückzug ein Wendepunkt im Ukraine-Krieg?

Der Ukraine-Krieg könnte sich in einer entscheidenden Wendung befinden. Nach massiven Vorstößen der Ukrainer zieht Russland eigene Truppen aus dem östlichen Gebiet Charkiw zurück. Kiew nimmt den Truppenrückzug mit großer Genugtuung auf. „Besatzer haben in der Ukraine keinen Platz und werden keinen haben“, sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in seiner Videoansprache in der Nacht zum Sonntag.

Mehr als sechs Monate nach Kriegsbeginn hatte seine Armee die russischen Besatzer im Charkiwer Gebiet bis zum Samstag massiv zurückgedrängt. Wenig später gab das Verteidigungsministerium in Moskau dann einen Rückzug seiner Truppen aus strategisch wichtigen Städten bekannt.

Ein zerstörter russischer Panzer ist in der Nähe von Charkiw in der Ukraine zu sehen.
Ein zerstörter russischer Panzer ist in der Nähe von Charkiw in der Ukraine zu sehen. © David Ryder/ZUMA Press Wire/dpa

Für weitere erfolgreiche Gegenoffensiven ist Kiew eigenen Angaben zufolge aber auf weitere Waffenlieferungen aus dem Westen angewiesen. Bei einem Besuch von Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) machte ihr ukrainischer Kollege Dmytro Kuleba diesbezüglich Druck.

Selenskyj: Seit Monatsbeginn 2000 Quadratkilometer zurückerobert

Selenskyjs Angaben zufolge haben die Ukrainer in den vergangenen zehn Tagen rund 2000 Quadratkilometer in bislang von Russland besetzten Gebieten zurückerobert. Der ukrainische Staatschef dankte allen Soldaten, die an Rückeroberungen im Charkiwer Gebiet beteiligt waren.

Offiziell begründete Moskau den Abzug der eigenen Truppen damit, dass durch die Umgruppierung Einheiten im angrenzenden Gebiet Donezk verstärkt werden sollen. Viele Militärexperten gehen jedoch davon aus, dass die Russen angesichts des massiven ukrainischen Vorstoßes im Charkiwer Gebiet zuletzt so stark unter Druck geraten sind, dass sie sich zur Flucht entschieden haben.

Die Ukrainer gewannen am Samstag die strategisch wichtige Stadt Isjum in der Oblast Charkiw im Nordosten der Ukraine zurück. Auch in der bislang besetzten Stadt Balaklija waren die ukrainische Soldaten erfolgreich. Ukrainische Truppen sollen außerdem den internationalen Flughafen in Donezk unter ihre Kontrolle gebracht haben und sich im Zentrum von Lyssytschansk in der Oblast Luhansk befinden.

Auch der britische Militärgeheimdienst bestätigte, dass die ukrainischen Truppen in den vergangenen 24 Stunden bedeutende Fortschritte bei ihrer Gegenoffensive in der Region Charkiw gemacht haben. Allerdings hielten Kämpfe rings um die Städte Kupjansk und Isjum an, heißt es im jüngsten Geheimdienstbericht.

Russische Besatzer rufen Menschen in ganz Charkiw zur Flucht auf

Nach der Bekanntgabe des Rückzugs riefen die russischen Besatzer alle Bewohner der bislang unter ihrer Kontrolle stehenden Orte in Charkiw zur Flucht auf. „Ich empfehle nochmals allen Bewohnern der Region Charkiw, das Gebiet zum Schutz ihres Lebens und ihrer Gesundheit zu verlassen“, sagte der Chef der von Russland eingesetzten Militärverwaltung, Witali Gantschew, laut der Agentur Tass. „Jetzt in seinem Haus zu bleiben, ist gefährlich.“

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Ukraine-Krieg: Atomkraftwerk Saporischschja heruntergefahren

Derweil ist das Atomkraftwerk Saporischschja ist nach ukrainischen Angaben vollständig vom Stromnetz abgekoppelt worden und wird heruntergefahren worden. „Es wurde entschieden, den Reaktorblock Nummer sechs in den sichersten Zustand – den Kaltzustand – zu versetzen“, teilte die ukrainische Atombehörde Enerhoatom am Sonntag auf ihrem Telegram-Kanal mit. Das AKW befindet sich seit Wochen unter Beschuss. Russland und die Ukraine geben sich gegenseitig die Schuld für die Eskalation der Lage rund um die Nuklearanlage.

Laut Enerhoatom arbeitete das AKW in den letzten drei Tagen bereits im „Inselbetrieb“, das heißt, es produzierte nur noch Strom zur Eigenversorgung, weil alle Verbindungslinien zum ukrainischen Stromnetz durch den Beschuss unterbrochen worden seien. Am Samstagabend sei dann eine Leitung zum Stromnetz wieder hergestellt worden. Daraufhin sei entschieden worden, das AKW über diese Leitung zu versorgen und den letzten funktionierenden Reaktorblock abzuschalten und auf den sicheren Kaltzustand herunter zu kühlen.

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Baerbock fordert russischen Abzug vom Atomkraftwerk Saporischschja

Bereits im August gab es eine Notabschaltung des Kraftwerks. Vorausgegangen war ein Beschuss der Anlage, für die sich beide Kriegsparteien gegenseitig verantwortlich machen. Unabhängig können die Angaben nicht überprüft werden.

Baerbock forderte darüber hinaus den vollständigen russischen Abzug vom Gelände des Atomkraftwerks Saporischschja in der Südukraine. Mit der Besetzung des Kernkraftwerks setze der russische Präsident Wladimir Putin die gesamte Region der Gefahr eines nuklearen Zwischenfalls aus, sagte die Grünen-Politikerin bei ihrem Besuch in Kiew. (dpa/bef)

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Dieser Artikel erschien zuerst auf www.morgenpost.de.