Berlin. In der Reserve, aber nur im Notfall am Netz: Robert Habecks Plan für die Kernkraftwerke sorgt für Unmut. Droht wirklich ein Blackout?

Der Stresstest mag zu Ende sein, der Stress ist es nicht: Mit dem Vorschlag, zwei von drei verbliebenen Kernkraftwerken in eine Einsatzreserve zu überführen, hat der Wirtschaftsminister eine heftige Debatte losgetreten über Versorgungssicherheit im Stromsektor – auch innerhalb der Regierung. Antworten auf die wichtigsten Fragen.

Kernkraftwerke in Bayern und Baden-Württemberg: Was heißt Reservebetrieb?

Im Vorfeld war über drei Optionen für die Atomkraftwerke diskutiert worden: zum Jahresende abschalten, mit neuen Brennstäben mindestens mittelfristig weiterbetreiben oder im sogenannten Streckbetrieb mit den vorhandenen Brennstäben bei geringer Produktivität die Stromproduktion verlängern. Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hat einen vierten Weg gefunden – die sogenannte Einsatzreserve.

Das Atomkraftwerk Emsland in Niedersachsen soll wie geplant zum Jahresende vom Netz gehen. Auch die Meiler Isar 2 in Bayern und Neckarwestheim in Baden-Württemberg sollen dann eigentlich keinen Strom mehr produzieren. Habecks Plan sieht aber vor, die beiden Kraftwerke in einen Reservebetrieb zu versetzen.

Die Meiler würden dann heruntergefahren, Personal bliebe vor Ort. Droht einzutreten, wovon in den Worst-Case-Szenarien des Stresstests ausgegangen wurde, können die Kraftwerke wieder hochgefahren werden, laut Wirtschaftsministerium mit einem Vorlauf von sechs bis sieben Tagen.

Sollte die Entscheidung fallen, die Kraftwerke einzusetzen, würden sie bis Mitte April durchlaufen. Spätestens dann soll allerdings nach den Plänen des Wirtschaftsministeriums wirklich Schluss sein mit Atomstrom aus Deutschland.

Das Ministerium begründet die Entscheidung damit, dass der Beitrag der drei Kraftwerke zur Stromversorgung und zur Stabilisierung des Stromnetzes auch im Notfall gering sei. Dann müsse ohnehin auf Kapazitäten aus dem Ausland zurückgegriffen werden.

Fällt dadurch mehr Atommüll an?

Nein. Die Kraftwerke nutzen ihr bisheriges Brennmaterial. Der Einkauf neuer Brennstäbe ist nicht vorgesehen.

Droht Deutschland im Winter ein Blackout?

Die Versorgungssituation mit Strom, zu diesem Schluss kommen die vier Übertragungsnetzbetreiber in ihrer Analyse, wird in diesem Winter in Deutschland „äußerst angespannt“ sein. Sie empfehlen mehrere Maßnahmen, um die Versorgung zu sichern. Auch die Verfügbarkeit der Akw sei „ein weiterer Baustein zur Beherrschung kritischer Situationen“.

Die CDU kritisiert den Habeck-Plan vor diesem Hintergrund scharf. Durch das Herunterfahren der Kraftwerke drohten im Winter im Zusammenspiel mit den horrenden Gaspreisen Stromknappheit, eine Überlastung der Stromnetze und sogar ein „Blackout“, warnte Parteichef Friedrich Merz am Dienstag.

Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen), Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz.
Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen), Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz. © dpa | Kay Nietfeld

Der Energieexperte Christoph Maurer vom Beratungsunternehmen Consentec schätzt diese Warnung als „übertrieben“ ein. „Denn unter einem Blackout verstehen wir einen unvorhersehbaren Stromausfall, der ganze Regionen, Länder oder sogar das gesamte Stromnetz in Europa betrifft“, sagte Maurer unserer Redaktion. „Damit ist nicht zu rechnen.“

Allerdings sei nicht vollkommen das Risiko ausschließen, „dass es zeitlich begrenzt zu geplanten, vorab angekündigten und räumlich begrenzten Abschaltungen kommt“. Die Übertragungsnetzbetreiber könnten solche Situationen aber vorab absehen und dann reagieren. „Das wäre nicht schön, aber das ist kein Blackout, der urplötzlich die gesamte Infrastruktur lahmlegt“, erläutert Maurer. „Allerdings schätze ich selbst dieses Szenario für Deutschland als nicht sehr wahrscheinlich ein, auch wenn Risiken definitiv bestehen.“

Wie kommt Habecks Vorschlag in der Koalition an?

Die SPD hatte sich ebenso wie die Grünen im Vorfeld skeptisch zu einem Weiterbetrieb der Akw im Streckbetrieb geäußert. Mit dem Vorschlag Habecks ist die SPD nun zufrieden.

Und auch in Habecks eigener Partei gibt es Lob für die Entscheidung des Ministers. Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) sagte unserer Redaktion, er halte Habecks Entscheidung für „richtig und angemessen“. „Denn besondere Zeiten erfordern besondere Maßnahmen.“

Es stünde jetzt fest, dass es sinnvoll und notwendig sei, Vorbereitungen für einen möglichen Streckbetrieb der beiden Süd-Atomkraftwerke zu treffen. Damit könnten jetzt auf die notwendigen Schritte in die Wege geleitet werden. Gleichzeitig betonte Kretschmann: „Damit wird der Atomausstieg keinesfalls infrage gestellt.“

Die Versorgungslage mit Strom könnte in diesem Winter „äußerst angespannt“ sein, meinen die Netzbetreiber.
Die Versorgungslage mit Strom könnte in diesem Winter „äußerst angespannt“ sein, meinen die Netzbetreiber. © picture alliance / Panama Pictures | Christoph Hardt

Anders sieht das die FDP: Die Liberalen wollen bis 2024 an dem Betrieb der drei Atomkraftwerke festhalten und begründen dies außer mit der Versorgungssicherheit auch mit dem derzeit hohen Strompreis. Christian Dürr, Fraktionschef der Liberalen im Bundestag, argumentiert, ein Weiterbetrieb der Akw sei richtig, damit „mehr Menge in den Markt kommt“. Dies bedeute dann auch „sinkende Preise“.

Das Wirtschaftsministerium hielt dagegen, dass die Strompreise in den vergangenen Monaten trotz noch laufender Kernkraftwerke stark gestiegen seien. „Auch bei einem Weiterbetrieb der AKW würden ganz überwiegend weiterhin Gaskraftwerke den Preis setzen“, erklärte eine Sprecherin. Sie zitierte Experteneinschätzungen, die von einer Preissenkung im Bereich von einem Prozent ausgehen.

Warum sollen nur die süddeutschen Akw in Reserve bleiben?

Der Norden Deutschlands ist besser mit Strom versorgt als der Süden. Das liegt etwa an der reichlich vorhandenen Windkraft von der Küste – und an fehlenden Trassen, die Strom von dort in den Süden transportieren. Für Niedersachsen gebe es risikoärmere Alternativen zum Weiterbetrieb des Atomkraftwerks Emsland bei Lingen, argumentiert Habeck.

Seinen Plan zum Reservebetrieb der süddeutschen Meiler präsentierte er gemeinsam mit der Aufforderung an das CSU-regierte Bayern, doch endlich mehr für erneuerbare Energien zu tun. Allerdings: In Baden-Württemberg regiert seit Jahren Habecks Parteifreund Kretschmann. Auch dort tut sich beim Thema Windkraft wenig.

Die FDP vermutet jedoch auch eine politische Motivation hinter der Entscheidung – schließlich ist in gut einem Monat Landtagswahl in Niedersachsen, wo die Grünen künftig mitregieren wollen. „Der einzige Grund, warum das Kernkraftwerk in Lingen im Emsland nicht auch in den Reservebetrieb geht, ist der linke Landesverband der Grünen in Niedersachsen“, kritisierte der FDP-Politiker Konstantin Kuhle auf Twitter. „Habeck muss sich gegen die Ideologen in seiner Partei durchsetzen und den Weiterbetrieb aller drei Anlagen ermöglichen.“

Bekommen die Betreiber Geld für den Reservebetrieb?

Indem die beiden Meiler im Habacht-Betrieb bleiben, fallen dem Wirtschaftsministerium zufolge „überschaubare Kosten“ für Personal und Technik an. Diese bekommen die Betreiber vom Staat erstattet. Diese Kosten werden somit aus Steuergeldern bezahlt, aber nicht wie etwa die Gasumlage an die Verbraucher direkt weitergegeben.

Sollten die Kraftwerke tatsächlich wieder angefahren werden, können die Betreiber den Strom wie üblich verkaufen. Ersatzkosten wären damit hinfällig.

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.