London. Auch die neue britische Premierministerin will den Brexit durchboxen. Sie setzt auf Steuersenkungen. Oder kommt doch ein Hilfspaket?

Der sechswöchige Wahlkampf um das höchste politische Amt in Großbritannien ist so zu Ende gegangen, wie es viele erwartet hatten: Liz Truss wurde von der Mehrheit der rund 160.000 Parteimitglieder der Konservativen gewählt. Bereits an diesem Dienstag wird sie als neue Premierministerin antreten. Zunächst muss sie noch den Weg ins schottische Balmoral auf sich nehmen, zum Landsitz der Queen. Dort wird ihr das Staatsoberhaupt den Auftrag zur Regierungsbildung erteilen.

Truss hatte von Anfang an als Favoritin gegolten. So hat das Land in den vergangenen Wochen bereits angefangen, nach vorne zu blicken: Wie wird Truss regieren? Wen wird sie ins Kabinett berufen? Wie wird sie die verschiedenen Krisen, auf die Großbritannien zusteuert, meistern?

Nach allem, was sie in den vergangenen Wochen hat durchblicken lassen, wird die Truss-Regierungszeit weitgehend eine Fortsetzung der Johnson-Jahre sein – ein ehemaliger Kabinettskollege meinte wenig schmeichelhaft, die angehende Regierungschefin sei „wie Boris, aber ohne den Charme“.

Vor sechs Jahren stimmte sie noch gegen den Brexit

Auf jeden Fall ist Truss eine überzeugte Brexit-Anhängerin. Sie stimmte im Referendum vor sechs Jahren zwar für den Verbleib in der EU, aber mittlerweile ist sie sich sicher, dass der Austritt die richtige Entscheidung war. „Wir werden die Brexit-Freiheiten nutzen, um Investitionen zu entfesseln“, sagte sie Anfang letzter Woche bei einem Wahlkampfauftritt. Das heißt etwa, dass unnötige Regulierungen über Bord geworfen werden sollen.

Auch will sie Johnsons kampflustigen Kurs gegenüber der EU weiterführen. Immerhin war es Truss selbst, die als Außenministerin das kontroverse Gesetz, das Teile des Nordirland-Protokolls aushebelt, vorlegte; laut Experten verstößt die Vorlage gegen internationales Recht, und in Brüssel hat es für tiefe Verwirrung gesorgt.

Kampfansage an Brüssel: „Stärke ist das einzige, das die EU versteht.“

Aber Truss sagt: „Stärke ist das einzige, das die EU versteht.“ Kürzlich meinte sie sogar, sie würde die Suspendierung des gesamten Protokolls in Erwägung ziehen, sollte sie zur Premierministerin gewählt werden. Das Abkommen sieht vor, dass nach dem Brexit zwischen dem zum Vereinigten Königreich gehörenden Nordirland und dem EU-Mitglied Irland keine Zollkontrollen eingeführt werden.

Auch in der Migrationspolitik versuchte Truss Härte zu zeigen. Die Bootsflüchtlinge, die über den Ärmelkanal nach Großbritannien gelangen, sind der Tory-Basis seit langer Zeit ein Dorn im Auge. Entsprechend versuchte Truss zu beschwichtigen: Sie werde alles unternehmen, um Menschen vor der Überfahrt abzuhalten. Sie will etwa den Grenzschutz aufstocken: „Dies ist der einzige Weg, Schmuggler abzuschrecken und die kleinen Boote zu stoppen“, sagte sie.

Die Inflationsrate in Großbritannien liegt bei über zehn Prozent

Doch in der öffentlichen Debatte in Großbritannien sind derlei Fragen derzeit eher zweitrangig. Die Briten sind voll und ganz auf die schwarzen Wolken fixiert, die am wirtschaftlichen Horizont aufgezogen sind: Hohe Inflation – sie beträgt bereits über zehn Prozent – und der dramatische Anstieg der Energiepreise ab Oktober drohen die tiefste Krise seit Jahrzehnten auszulösen.

Selbst nüchterne Beobachter warnen vor sozialen Unruhen, wenn der Staat nicht mit einem dicken Rettungspaket für Haushalte und Unternehmen einspringt. Der ehemalige Tory-Abgeordnete und Journalist Paul Goodman sagte kürzlich, die neue Premierministerin werde bald „in einem ökonomischen Blizzard verschwinden“.

Truss will Sozialversicherungsbeiträge senken – Bestverdiener würden profitieren

Was sie genau tun will, um diesen Sturm zu überstehen und den landesweiten Notstand abzuwenden, das hat Truss noch nicht verraten. Sie hat am Sonntag lediglich versprochen: „Ich werde vom ersten Tag an handeln“ – ohne irgendwelche Details zu nennen. Aber sie hat bereits klar gemacht, dass ihre Wirtschaftspolitik vor allem von einem Ziel geleitet sein wird: Steuersenkungen. Sie sollen die Wirtschaft ankurbeln. Das Wachstum werde den Leuten helfen, die steigende Inflation zu meistern.

Ökonomen warnen jedoch, dass dies kaum ausreichen werde. Laut einer Kalkulation würde beispielsweise die von Truss geplante Senkung der Sozialversicherungsbeiträge den Bestverdienern 1800 Pfund pro Jahr bescheren – den Leuten am untersten Ende der Einkommensskala jedoch mickrige sieben Pfund. Als Truss in einem BBC-Interview auf diese Rechnung angesprochen und gefragt wurde, ob dies fair sei, sagte sie: „Ja, das ist fair.“

Oder kommt doch ein Hilfspaket – mit eingefrorenen Energiepreisen?

Allerdings hört man von informierten Kreisen in Westminster, dass das Team rund um Truss bereits Optionen durchspielt, wie man den Briten mit einem Hilfspaket direkt unter die Arme greifen kann. Demnach wird unter anderem ein Einfrieren der Energierechnungen erwogen.

Bereits jetzt sorgen sich manche Tories, dass die Unterstützung für britische Unternehmen und Haushalte, die Truss bereitstellen wird, nicht ausreichen wird. Sollte sie bereits in ihren ersten Wochen als neue Premierministerin zu einer 180-Grad-Wende gezwungen werden, würde dies ihrer Autorität einen empfindlichen Schlag versetzen.

Zudem sorgen sich viele Parteikollegen, dass Truss ihr Kabinett mit loyalen Weggefährten bestücken wird – anstatt Vertreter von verschiedenen Flügeln in wichtige Positionen zu holen und zu versuchen, die Partei zusammenzubringen. Ein Abgeordneter sagte gegenüber dem Nachrichtenportal Politico: „Wenn sie nicht ein Team zusammenstellt, das die ganze Partei repräsentiert, könnte die Sache schnell ins Wanken geraten.“

Dieser Artikel „Liz Truss folgt Johnson: Das sind ihre größten Baustellen“ erschien zuerst auf morgenpost.de.