Berlin. Die Corona-Pandemie hat die psychische Gesundheit vieler Schulkinder geschwächt. Experten schlagen Alarm und suchen nach Lösungen.

Deutschland lässt die Corona-Pandemie allmählich hinter sich – und wird doch voraussichtlich viele zurücklassen, die unter den Infektionswellen und den Maßnahmen zu ihrer Eindämmung gelitten haben. Das betrifft ausgerechnet diejenigen, die in der Regel noch eine lange Lebensspanne zu erwarten haben: Kinder und Jugendliche.

Es mangelt nicht an Vorschlägen, was für das subjektive Wohlbefinden von Jungen und Mädchen getan werden könnte. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben Ideen und Erfahrungswerte, was die psychische Gesundheit der jungen Menschen fördern könnte. Doch sie haben selbst Zweifel, ob ihre Konzepte umgesetzt werden.

Corona: Psychologin warnt vor Zahl stationär behandelter Kinder

Die Dortmunder Psychologie-Professorin Ricarda Steinmayr hat eine im Frühsommer veröffentlichte Studie über das Wohlbefinden vor allem von Grundschulkindern geleitet. Ihre Studie wie auch andere Erhebungen haben nach Steinmayrs Worten gezeigt, „dass es den Kindern jetzt besser geht als während der Lockdowns – da ging es ihnen richtig schlecht –, aber die psychische Gesundheit immer noch nicht vergleichbar ist mit der der Kinder vor Corona“. Sie berichtet außerdem von einer gestiegenen Zahl stationärer Behandlungsfälle in Kinder- und Jugendpsychiatrien wegen Zwangs-, Ess- und Angststörungen sowie depressiven Episoden.

Steinmayr räumt ein: „Ich weiß, wenn man mehr Personal fordert, hören alle schon auf zuzuhören.“ Dennoch fordert sie: „Es wäre schön, wenn den Schulen auch Schulsozialarbeiter oder Schulpsychologinnen zur Verfügung gestellt würden.“ Sie verweist auf ein Zahlenverhältnis, wonach in Nordrhein-Westfalen eine psychologische Fachkraft mehr als 7000 Schülerinnen und Schüler versorgt.

Dabei helfe es Kindern, denen es nicht gut gehe, bereits, „wenn sie mal ein gutes Gespräch führen. Das bringt sie häufig schon weiter.“ Doch solche niedrigschwelligen Angebote für Mädchen und Jungen, deren Probleme noch keine klinische Behandlung erforderten, „fehlen einfach und da sollte man investieren.“

Der renommierte Bildungsforscher Klaus Hurrelmann ergänzt, Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen und finanziell nicht auf Rosen gebetteten Familien seien durch die Pandemie noch weiter abgehängt worden. Hurrelmann spricht von „Schwächen im Selbstwertgefühl und in der Selbstsicherheit“, die kaum auszugleichen seien. „Da müsste man ganz intensiv, ganz massiv hineingehen und eine nachhaltige Förderung machen“, unterstreicht der Forscher, „das bekommen diese Kinder aber typischerweise nicht.“

Bildungsforscher: Jeder dritte bis vierte Heranwachsende womöglich abgehängt

Ein 2021 aufgelegtes und zwei Milliarden Euro umfassendes Aktionsprogramm von Bund und Ländern formuliert exakt den Anspruch, zu verhindern, dass die Zeit der Pandemie bei Kindern und Jugendlichen „lange nachwirkt und bestehende Ungleichheiten verfestigt“. Doch davon sei dieses „Aufholprogramm“ weit entfernt, kritisiert Hurrelmann. Es erreiche die Kinder und Jugendlichen, die eingebrochen seien, nicht. „Sie brauchen ein begleitendes soziales Programm, eine begleitende Stabilisierung ihre Selbstwertgefühls“, spricht er sich dafür aus, Fachpersonal aus Psychologie und Sozialarbeit an den Schulen zu verstärken.

Die Gruppe der jungen Abgehängten ist nach seiner Einschätzung während der Pandemiezeit größer geworden: Es seien nicht mehr 20, sondern heute eher 25 oder vielleicht sogar 30 Prozent der Heranwachsenden. „Die, die schon vor der Corona-Pandemie schwach dastanden, die sind noch geschwächt worden und bei denen müssen wir leider sehr wohl befürchten, dass sich die Belastungen fortschleppen in spätere Lebensphasen“, sagt Hurrelmann.

Auch die niedersächsische Kinder- und Jugendkommission sieht in einem Positionspapier, das unter wissenschaftlicher Beteiligung erarbeitet wurde, die Auswirkungen der Corona-Pandemie keineswegs als vorübergehend an. „Sie verdichten sich bei vielen jungen Menschen zu latenten Belastungen, die sie ohne professionelle Hilfe nicht bearbeiten können“, heißt es in dem vom Institut für Sozial- und Organisationspädagogik der Uni Hildesheim mitformulierten Papier.

Homeschooling und unsichere Aussichten haben gerade Kindern und Jugendlichen aus sozial schwachen Familien psychisch zugesetzt.
Homeschooling und unsichere Aussichten haben gerade Kindern und Jugendlichen aus sozial schwachen Familien psychisch zugesetzt. © iStockphoto | iStockphoto/luna4

Training soll Gedanken auf positive Dinge des Alltags lenken

Ein Ansatz der Uni Dortmund sind spezielle Trainings. Psychologin Steinmayr hat 2019 an der Uni Galway in Irland ein Gemeinschaftsprojekt von Kultus- und Gesundheitsministerium kennengelernt, das in das Training „MindOut“ mündete. „MindOut“ werde in Irland verbreitet eingesetzt und diene der Stärkung des subjektiven Wohlbefindens. Zudem sei es wissenschaftlich ausgewertet worden, „auch an Schulen in sozialen Brennpunkten“. An ihrem Lehrstuhl werden Materialien des Programms ins Deutsche übersetzt.

„MindOut“ umfasse beispielsweise einen Animationsfilm, in dem „negative Gedankenketten, die wir oft haben, bildlich dargestellt werden“. Eine andere Trainingseinheit diene der Steigerung des Selbstwertgefühls. Dabei sollten die Teilnehmenden sich auf Dinge konzentrieren, die sie gut können oder in denen sie sich verbessert hätten.

Denn „häufig geht es darum, den Fokus vom Negativen aufs Positive zu lenken“. So auch bei „Three good things“: Die Teilnehmenden sollen „jeden Tag drei Dinge benennen, die einen an dem Tag glücklich oder zufrieden gemacht haben“. Ziel sei, „dass man wieder mehr die positiven Dinge, auch die kleinen, in den Blick nimmt, die jedem Menschen passieren, die wir aber häufig übersehen“.

Aus Sicht von Bildungsforscher Hurrelmann ist die Dortmunder Studie, „methodisch sehr gut angelegt“. Auch er sieht in anderen Ländern „überzeugende Ansätze“. Grundsätzlich seien Anleihen jenseits der nationalen Grenzen „sehr interessant, eben weil sie aus einem anderen System kommen“. Es sei jedoch zugleich ihr Hauptproblem, sie zu übertragen und in den deutschen Schulalltag zu integrieren. „Da merkt man dann in der Praxis nach einigen Jahren, dass auch ein sehr überzeugendes Modell bei uns gar nicht so funktioniert, weil es auf andere Rahmenbedingungen stößt.“

Dieser Text erschien zuerst auf morgenpost.de